Laura Feder

Die Kinder Paxias


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Ist jemand da? Kann ich Euch helfen?“

      Keine Antwort. Einzig das Wimmern war als Reaktion zu deuten.

      „Wo seid Ihr? Ich kann Euch nicht finden!“

      Stille!

      Es war nichts mehr zu hören. Entweder seine Sinne hatten ihn genarrt oder die Person hatte das Bewusstsein verloren.

      Verdammt, man konnte auch gar nichts erkennen.

      Iain fluchte leise, als er gegen einen Dornbusch stolperte. Blut sickerte aus mehreren Wunden und beschmutzte sein weißes Hemd.

      Er stellte sich die Frage, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, erst auf das Verschwinden des Nebels zu warten, bevor er den Schutz der Burg hätte verlassen dürfen.

      Wie auf Kommando veränderte sich das Grau. Iain glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als sich die dichte Masse in eine rauchartige Substanz zu verwandeln begann. Sie schien ihm einen Weg weisen zu wollen – denn die Ver­wandlung war örtlich begrenzt.

      „Das glaubt mir keiner“, murmelte er verwirrt, als er zuerst Bäume, dann Büsche und schließlich den Boden erkennen konnte.

      Er blinzelte zweimal, da vorne im Laub blitzte doch etwas.

      Er beschleunigte seine Schritte. Der Laubhaufen war groß genug, einen Körper vor seinen Blicken zu verbergen.

      Ohne weiter nachzudenken, kniete er sich davor und begann in den Blättern zu wühlen.

      Als Erstes sah er die Hand. Sie war klein, wunderbar geformt und – eiskalt.

      Iain zuckte erschrocken zurück. Mit noch viel größerer Hast räumte er das Laub weg, um das arme Geschöpf zu befreien. Bald erkannte er auch den blitzenden Gegenstand, der ihn zuvor angelockt hatte.

      Es war ein breiter, silberner Halsschmuck, der einen abnehmenden Mond darstellte, mit einem Auge aus einem dunkelblauen, geschliffenen Stein. Er schien ihm seltsam bekannt, und als er seinen Blick davon losriss, stockte ihm der Atem.

      Vor ihm lag das faszinierendste Wesen – Mädchen –, das ihm je begegnet war.

      Ihre nahezu schneeweiße Haut war mit einem silbrigen Schimmer überzogen. Tiefschwarze Locken, die ihr weit in den Rücken fallen mussten, ringelten sich kreuz und quer um ihr und auf ihrem Gesicht. Doch am auffälligsten war ihr einzigartiger Mund. Der Schwung ihrer Lippen schien von einem Künstler gezeichnet worden zu sein, der einem Schwarz-Weiß-Gemälde einen farbigen Akzent hatte geben wollen, denn sie glänzten in einem silbrigen Rosa.

      Sie waren geöffnet, so dass sie den Blick auf ebenmäßige Zahnreihen freigaben, und …

      Sie atmete nicht.

      Diese Entdeckung riss ihn aus seiner Starre.

      Hier war schnelles Handeln angebracht. Aufgeregt tastete er nach ihrem Puls und erschrak abermals über die Kälte ihrer Haut.

      „Komm schon, halt durch! Ich habe Tausende von Fragen an dich.

      Wo kommst du her? Wer bist du? – Was bist du?“, stieß er hastig hervor, während er an ihrem Handgelenk entlangfuhr, auf der Suche nach einem Lebenszeichen.

      Es war ein ganz schwaches Puckern, sehr langsam, aber eindeutig vorhanden.

      Iain atmete erleichtert auf.

      Sie lebte – und sie brauchte offensichtlich schnellstens einen Mediziner.

      Sie waren nicht weit entfernt von seinem Zuhause.

      Ohne lange zu überlegen, hob er sie, sich aufrichtend, empor. Obschon es ihm keine große Mühe bereitete, war er doch verblüfft, wie schwer sie in seinen Armen lag. Bei ihrer Schlankheit hätte er nicht so viel Gewicht erwartet.

      Er wollte sie ein wenig umbetten, damit er nicht beim Fliegen behindert war. Doch als er den Arm bewegte, stöhnte sie leise auf. Ein gequälter Zug erschien um ihren Mund, was ihn zu höchster Eile veranlasste.

      Mit aller Vorsicht, die ihm möglich war, flog er los, die heimatliche Burg ansteuernd.

      „Nur noch ein paar Minuten Geduld, gleich sind wir da. Dann kommst du in ein warmes Bett und unsere Medizinerin wird dir helfen, wieder gesund zu werden. Bei uns bist du sicher, da kannst du wieder alle Kräfte sammeln, die du brauchst, und in Ruhe genesen.“

      Iain wusste nicht, ob sie ihn hören, geschweige denn verstehen konnte. Er redete, um sich selbst zu beruhigen, um diese Ruhe auf sie ausstrahlen zu können. Er wollte, dass sie spürte, dass sie nicht allein war und keine Angst zu haben brauchte.

      Sie sollte sich am Leben festhalten, nicht aufgeben, nun, da Hilfe in nächster Nähe wartete.

      Außerdem war er unendlich begierig darauf, sie kennenzulernen. Er wollte wissen, was für ein Wesen sich hinter diesem fremdartig schönen Körper verbarg.

      Doch zunächst musste sie gerettet werden.

      Er machte sich nicht die Mühe, über den Park die Burg zu betreten. Stattdessen wies er einige Leute im großen Saal an, eines der Fenster zu öffnen. Diese beeilten sich seiner Aufforderung nachzukommen.

      Es waren noch immer nahezu alle Bewohner versammelt, die zuvor mit ihm den Sturm beobachtet hatten. Sein Berater eilte ihm mit besorgt entsetzter Miene entgegen, aber Iain beachtete ihn vorerst nicht.

      Er winkte einem kleinen Jungen zu.

      „Miro, lauf und hol Colia!“

      Ohne zu zögern folgte das Kind seinem Befehl und rannte hinaus. Iain schmunzelte über den Eifer des Jungen, dann wandte er sich Janos zu.

      „Das Mädchen braucht ein Zimmer.“

      Der ältere Mann keuchte auf, er rang seine Hände.

      „Iain, das ist kein Mädchen, es ist ein Dämon! Seht es Euch an, das ist nicht von unserer Welt, es gehört nicht hierher. Ich bitte Euch, bringt es schnell fort. Wer weiß, was es uns antun wird.

      Vielleicht brachte es diesen Sturm!“

      Iains Lächeln gefror augenblicklich. Mit drohend blitzenden Augen fixierte er sein Gegenüber.

      „Ich bitte dich, Janos, sie ist schwer verletzt und braucht unsere Hilfe. Wahrscheinlich hat der Sturm sie so zugerichtet, sie hat ihn nicht verursacht. Was hat aus dir so einen Feigling gemacht?“

      „Ich bin kein Feigling, Iain, aber in letzter Zeit sind so viele unerklärliche Dinge geschehen, dass man vorsichtig sein muss. Und dieses Wesen ist nicht von unserer Art – wir wissen nichts über sie.

      Bringt sie zurück, und ihr Volk wird sich bestimmt um sie kümmern.“

      Janos war ehrlich entsetzt über den Vorwurf Iains, er blickte ihn voller Verständnislosigkeit an. Dies war noch gar nichts im Vergleich zu Iains Fassungslosigkeit.

      Er begriff die Abwehr seines Beraters nicht.

      Doch nicht nur dieser, auch die anderen aus dem Saal fixierten das völlig hilflose, dem Tode nahe Mädchen auf seinen Armen mit einer Mischung aus Angst und Ablehnung. Keinerlei Mitgefühl zeichnete sich auf ihren Mienen ab.

      Sie standen einfach da und starrten auf das Wesen, das so anders aussah als alles, was sie bisher zu Gesicht bekommen hatten. Einige wichen auch angewidert zurück, so dass Iain Zweifel kamen, ob er sich wirklich in seiner Heimatburg befand, oder es vielleicht eine Parallelwelt gab, in der seine Leute zu kaltherzigen Sklaven ihrer Zweifel geworden waren, die keinen Blick für außergewöhnliche Schönheit hatten. Auch wenn diese von anderer Art war.

      „Was ist los?“ Den Jungen Miro an der Hand, schritt die hochgewachsene Gestalt der Medizinerin in den Saal und blickte suchend durch die Reihen der Schweigenden.

      Wenn sie überrascht war von deren abweisenden, verkrampften Gesichtern, so ließ sie sich das nicht anmerken. Vielmehr suchte sie nach der Quelle derselbigen.

      „Colia!“, rief Iain aufgeregt, die Last in seinen Armen ermüdete ihn. Außerdem ging es dem Mädchen