Julie Starke

Mutterherz Teil 3


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Der Pilot begrüßte sie mit einem Handschlag. Tim sah dem Learjet 31 mit dem schwungvollen Schriftzug der Hänggi Group so lange nach, bis dieser am Horizont verschwand.

      Dienstag, 01. Mai 2012 auf Mittwoch, 02. Mai 2012

      Nein, nicht gehen!

      Das schmerzende Gefühl der Sehnsucht überrollte ihn mit der Wucht einer Dampfwalze. Die Frau war vollkommen verhüllt – und doch wusste er, spürte er, dass sie seine Mutter war. Sie blieb stehen, direkt vor ihm. Dieses Mal war er ihr so nahe, dass er sie berühren konnte. Er berührte ihr Gesicht durch den gelben, verhüllenden Schleier und wickelte den seidigen Stoff um seinen Zeigefinger.

      „Nicht!“ Ihre Stimme war nur ein Hauch. Leise, als käme sie von weit, weit her. Doch Tim ließ sich dieses Mal nicht aufhalten. Mit einem Ruck zog er ihr die Verhüllung herunter und ihr Schrei schrillte in seinen Ohren. Er hätte auch geschrien, aber brachte vor Entsetzen kein einziges Wort heraus. Ihr Gesicht hing in fleischigen Fetzen von den Knochen. Maden krochen ihr durch die Augenhöhle und er konnte durch die offene Wange gelbliche Backenzähne sehen.

      Eins. Zwei. Drei. Vier.

      Er kontrollierte seine Atemzüge, um wieder die Oberhand über sich selbst zu erhalten.

      Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Neun. Zehn.

      Das Herz pochte schmerzhaft gegen den Brustkorb.

      Ruhig, dachte er. Ganz ruhig, Tim.

      An den Traum, der ihm diesen Zustand beschert hatte, konnte er sich bald nicht mehr erinnern, nur an das beklemmende, furchtbare Gefühl. Er war nicht imstande zu entscheiden, sich einfach wieder hinzulegen und an etwas anderes zu denken. Sein Körper schickte ein hämmerndes Alarmsignal durch alle Zellen und bevor er diesen Alarm nicht deaktivierte, würde er nichts entscheiden können. Dann hörte er in der Ferne eine Glocke. Er zählte mit. Die Glocken von St. Michael läuteten 4:00 Uhr, während er vor dem geöffneten Zimmerfenster stand und die frühlingswarme Nachtluft einatmete. Die schwach einfallende Beleuchtung des Lichts der Straßenlaterne half ihm, sich zu orientieren. Er angelte nach seiner Brille und schob sie sich auf die Nase.

      Am meisten fürchtete er den Kontrollverlust. Mit dem geringen Schlaf hätte er sich schon irgendwie arrangiert. Doch das plötzliche enge Gefühl in der Brust, die schweißnassen Hände und das abgrundtiefe Gefühl des Verlusts erfassten sämtliche Handlungsmöglichkeiten. In ein paar Stunden sollte er als Inkognito-Ermittler in der Agentur Bayerisch Media anfangen - der Agentur von Dr. Heldmann, der immer noch in Untersuchungshaft saß. Er würde sich krankmelden. In dieser Verfassung konnte er weder irgendwo neu beginnen noch irgendetwas ermitteln. Nach dem 20. Atemzug hörte er zu zählen auf und griff nach dem gelben Schal. Er fühlte sich seidig und wunderbar an. Tim hielt ihn sich vor die Nase gepresst und atmete Silvias Duft wie ein Süchtiger ein. Sein Herzschlag beruhigte sich. „Ich tu es für dich“, dachte er. „Nur für dich.“

      ***

      „Ich kenne zwei Arten von Praktikanten: Diejenigen, die mir auf die Nerven gehen und mir nur mehr Arbeit machen, als ich vorher hatte und die Praktikanten, die ihre Arbeit ernst nehmen und mich von der Arbeit entlasten. Wenn Sie keinen Ärger wollen, gehören Sie besser zur zweiten Sorte.“

      Tim nickte gehorsam und sah in die blauen Augen des grauhaarigen Mannes mit dem Ziegenbart. Ed Poulsen hatte die Leitung der Kreativabteilung der Bayerisch Media. Sie war in einem mehrstöckigen Gebäude untergebracht und vereinte neben der Verwaltung mit Buchhaltung, Sekretariat und Rechtsabteilung verschiedene Sparten wie Print-, Audio- und Video-Abteilung, in der zahlreiche Mitarbeiter beschäftigt wurden. Die Grafikabteilung wirkte mit den bunten Handzeichnungen an der Wand wie ein fröhlicher Kindergarten. Der Chef der Kreativabteilung war dagegen der reinste Griesgram. Tim sollte sein Augenmerk auf ihn richten. Poulsen sah nicht so aus, als wäre er über die Zuteilung des Praktikanten glücklich. Tim war es auch nicht.

      „Um 9:00 Uhr haben wir die erste Teamsitzung. Ich habe noch nicht gefrühstückt. Nicht weit von hier ist eine Bäckerei. Ich nehme etwas mit Kürbiskernen drauf.“

      Er hielt dem verdutzten Tim fünf Euro hin. Nach dem dieser nicht binnen drei Sekunden reagierte, wurde Ed Poulsens Ton schärfer.

      „Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!“

      Tim steckte die 5,00 € ein und zog los. Eine gute Viertelstunde später brachte er ihm eine Tüte mit dreierlei Backwaren mit Kürbiskernen: Eine Semmel, eine Laugenstange und ein belegtes Kürbiskernbrötchen.

      „Ich wollte was mit Sonnenblumenkernen drauf!“ fuhr Ed Poulsen ihn an.

      „Sie sagten Kürbiskerne!“ widersprach Tim.

      „Halten Sie die Klappe!“ fuhr Ed ihn an. Ed Poulsen nahm die Bäckertüte an sich. Tim blieb vor ihm stehen. Spätestens ab diesem Moment war Tim klar, dass sie keine Freunde werden würden – und noch schlimmer: Dass er hier einen Feind hatte.

      „Was wollen Sie hier noch?“ fuhr Ed ihn an.

      „Was soll ich als nächstes tun?“ fragte Tim.

      „Hören Sie auf, mich zu nerven!“ sagte er gereizt. Doch dann fiel ihm noch etwas ein. „In einer halben Stunde ist Meeting. Haben Sie die Unterlagen schon kopiert?“

      „Welche Unterlagen?“

      „Die Unterlagen fürs Meeting, Sie Hohlkopf!“

      Tim schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was das für Unterlagen sein sollten und erst recht hatte er keine Ahnung, für welches Meeting diese Unterlagen sein sollten.

      „Wo sind die Unterlagen und wie viele Kopien brauchen Sie?“ fragte er, bemüht, die ihm übertragenen Aufgaben unbedingt richtig zu machen.

      „Sie haben wohl überhaupt keine Ahnung!“ fuhr Poulsen wütend fort. „Jetzt nehmen Sie diese Dinger und verschwinden!“

      Er wies auf einen Stapel Papier auf seinem Schreibtisch. „Besprechung 2. Mai 2012“ stand darauf. Tim nahm den Stapel an sich und verließ das Zimmer.

      Im gläsernen Gang standen die Kopierer. Es waren beeindruckende Maschinen, größer und breiter als Kopierer, die er von seinem Vater und von der Detektei kannte - und er hatte keine Ahnung wie man sie bediente. Ob es zwischen den Geräten Unterschiede gab? Er beugte sich über die einzelnen Kopierer und versuchte herauszufinden, welcher wofür stand. Nachdem er sich schon zwei Minuten eindringlich mit den Maschinen beschäftigt hatte, ohne dass er auch nur eine Kopie gefertigt hatte, vernahm er eine leicht schnarrende Stimme hinter sich.

      „Suchen Sie was?“ fragte sie und Tim hob den Kopf. Er sah in die blitzenden Augen einer rundlichen Sekretariatskraft.

      „Ich bin Kevin Tann, der neue Praktikant und soll hier was kopieren.“

      „Lassen S‘ mal sehen!“

      Die kritischen Augen der Dame flogen über die Unterlagen. Sie nickte dann. „Sind schwarzweiß Kopien für die 9:00 Uhr Besprechung. Da reicht der Kleine! Zwölf Stück!“

      Sie zeigte Tim, wie man die Vorlagen in den Kopierer legte und wo man drücken musste. Mit gleichmäßigem Surren wurden die Blätter eingezogen.

      „Ich bin Marita Bayerl und sitz‘ in dem Büro hier vorn!“ sie zeigte auf die Tür. Wunderbar, dachte Tim, der mit ihr die zweite Person von der Liste kennenlernte.

      „Danke!“ sagte Tim und nahm schließlich den fertig kopierten Stapel an sich, um ihn zu Ed Poulsen zu bringen. Er ging davon aus, alles richtig gemacht zu haben.

      „Was wollen Sie hier?“ fuhr Ed Poulsen ihn an und kaute an seiner Kürbiskernsemmel.

      „Die Unterlagen für die 9:00 Uhr Besprechung“, Tim legte ihm den Stapel auf den Tisch.

      „Und was soll ich damit? Die gehören in den Besprechungsraum! Können Sie nicht mal für 10 Cent mitdenken?“

      In diesem Augenblick bereute Tim zum ersten Mal an diesem Tag, sich nicht krank gemeldet zu haben.