Stefan G Rohr

Am anderen Ende der Sehnsucht


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      Das Besondere an ihrem Angebot aber war nicht nur die Idylle, die fast märchenhafte Anlage des alten Gebäudes, mit samt der Gärten und vor allem des Ausblickes auf den Fluss, es war ihr Wirken gegenüber den Gästen und Dauermietern, welches durchaus auch als mütterlich umsorgend gewertet werden konnte. Eines der größeren Zimmer hatte sie als Speiseraum, als gemeinsames Esszimmer gestaltet. Sie kochte für alle, und es war jedem schnell klar, dass es zur Hausgemeinschaft gehören sollte, sich weder zu separieren, noch dem Ansinnen der Hausdame entgegen zu wirken, in dem man selbst nicht etwa das Abendessen andernorts einnahm, jedenfalls nicht, ohne es zuvor der Köchin sorgsam und mit der gebotenen Sensibilität mitgeteilt zu haben.

      Wahrscheinlich war auch hierin einer der Gründe zu finden, warum es einer der Mieter, der Professor, nun schon einige Jahre in diesem Haus, in der Obhut von Frau Theissen, gehalten hat. Und sie war stolz darauf, worin wohl auch der Grund lag, dass sie diese Tatsache gern prominent in ihre Eigenwerbung einbezog.

      Leon war es Recht. Überdies offerierte seine Vermieterin in der Lobby eine stattliche Auswahl an regionalen Weinen. Allesamt natürlich weiß und von der Traube her Riesling. Alles andere wäre einem Verrat gleichgekommen, denn diese Region stand nun einmal für die besten Weine dieser Rebsorte, für Steilhanglagen, große Schiefergewächse und stets prämierte Jahrgänge mit meist goldenen Medaillen. Ein Eldorado also, zumindest für Liebhaber dieser Weinregion und Puristen, denn ein wie auch immer komponierter Cuvée lässt sich vielerorts erzeugen, von Südafrika, über Australien bis Argentinien oder Kalifornien. Einen reinrassigen Riesling, der sogar verträglich und genießbar ist, wenn er noch im Lesejahrgang verkostet wird, lässt sich eben nicht mit vermischtem Sortengemenge vergleichen. Und in der Lobby, vor einem der schönen Kamine der Villa, wird es gewiss eine gute Zahl an Gelegenheiten geben, die Köstlichkeiten der Saison, vielleicht auch das eine oder andere Schätzchen eines der hiesigen Kellermeister, im Kreise der Mitbewohner zu verkosten und Bacchus zu huldigen. Mit einem ungarischen Tokajer wird das nicht nur schwer, es könnte auch den Zorn des Gottes hervorrufen, welcher sich in aller Regel in der Schwere des Kopfes am Folgetag zu erkennen gibt.

      Leon hatte das Zentrum des kleinen Städtchens erreicht. Sein Weg führte ihn noch über die breite, geschwungene Brücke, unter der schon die ersten weißen Ausflugsschiffe fuhren, mit unüberhörbaren Erklärungen des Touristenführers am Mikrophon, der mit lustigem Akzent in Englisch und Deutsch auf die Sehenswürdigkeiten in der Umgebung aufmerksam machte. Auf einem großen Parkplatz am Flussufer, direkt unter der Brücke, standen unzählige Reisebusse. Manche waren gerade erst angekommen und aus ihren Türen strömten die Fahrgäste heraus, wurden von aufgeregten Reiseführern zusammengehalten und mit Anweisungen für die bevorstehende Stadtführung beschallt. Auf der Uferpromenade teilten sich Spaziergänger und Fahrradfahrer die Vorherrschaft, und auf den vielen Bänken saßen mit Blick auf den ruhig dahinfließenden Strom Alt und Jung nebeneinander, empfingen mit geschlossenen Augen die warmen Sonnenstrahlen, lasen ein Buch oder beobachteten ganz einfach nur die vorbeispazierenden Menschengruppen.

      Das Verkehrsaufkommen auf der Brücke und der Hauptstraße, die sich hiernach einmal nach links und dann nach rechts gabelte, um jeweils am Ufer entlang zu führen, war auffällig hektisch. Die Fahrradfahrer störten die Autofahrer, diese wiederum waren offensichtlich den Busführern ein Dorn im Auge, und die Fußgänger hatten es mit allen schwer, scheinbar auch mit sich selbst, denn der massenhafte Strom der Menschen wurde immer wieder durch stehengebliebene Touristen gebremst, die sich für ein Foto zusammenstellten, den Weg kurz versperrten, um ihren Schnappschuss zu machen. Unter die kleinen Grüppchen und Familien mischten sich die größeren Kolonnen, die gehorsam einem Reiseführer hinterher trottelten, mal den Kopf nach links, dann wieder nach rechts drehten, fast synchron, wie im Ballett.

      Leon mochte solche Menschenansammlungen nicht besonders. So schaute er bereits schon nach kurzer Zeit nach Möglichkeiten, der Masse ausweichen zu können, nach den Stellen, wo es weniger Leute zu geben schien. Als er von der Brücke kommend die hektische Straße überquert hatte, spazierte er in die erste Gasse zwischen den Häusern, die in die historische Innenstadt führte. Hier waren wenigsten Autos und Fahrräder verboten, und es zeigte sich schnell ein malerisches Bild alter Häuser, teils aus Fachwerk, teils mit den regional wohl so typischen grauen Felssteinen gemauert, die sich aneinander reihten und mit bunten Blumenkästen und vielen Markisen geschmückt waren. Manche der Häuschen waren so schief, dass der Turm von Pisa hätte neidisch werden können, aber kein einziges Gebäude kam ohne ein Lädchen, ein Café oder ein Weinstübchen aus. Alle Einwohner dieses Ortes schienen irgendetwas zu verkaufen zu haben. Und die vielen Menschen, die sich teils in und vor den Geschäften drängelten, gaben ihnen ja auch Recht.

      Jeder Zentimeter an freier Fläche war genutzt. Es standen Kleider- und Postkartenständer vor den Häusern, die Restaurants und Gaststätten bestückten die Gehsteige und Plätze mit Tischen, Bänken, Sonnenschirmen und großen Schiefertafeln, auf denen Getränke, Kuchen, Weine und Liköre feilboten wurden. Kellnerinnen im Dirndl und mit Schürze liefen emsig durch die Reihen, nahmen Bestellungen auf oder luden an den Tischen ihre vollen Tabletts ab. Und Leon begriff sehr schnell, dass ein ruhiges freies Plätzchen nur sehr schwer zu ergattern sein würde. Hier hieß es mit der Masse mitschwimmen, oder wieder nach Hause gehen. Ein Ort zur Entspannung jedenfalls war das hier nicht, das war unübersehbar.

      Dennoch, und das war durchaus erstaunlich, strahlte alles hier eine Gemütlichkeit aus, derer sich auch Leon nicht entziehen konnte. Trotz der vielen Menschen und den vollen Straßen erschienen die Gassen, die kleinen Plätze mit ihren Brunnen und Bänken, wie aus einer längst vergangenen Zeit. Ohne die Touristen, Restaurants und Verkaufsständer würde all ad hier eine perfekte spätmittelalterliche Kulisse für einen Film abgeben. Und er stellte sich kurz vor, dass sobald die Sonne hinter den Weinbergen versunken sein würde, Ruhe und Abgeschiedenheit einsetzte, in den Häusern würde Licht gemacht und aus den kleinen Fenstern, mit ihren Butzenscheiben, fielen matte Lichtkegel auf die gepflasterten Wege, über die nur noch vereinzelt hier oder dort eine Kutsche holpern würde, und das Geklapper der Pferdehufe hallt noch abklingend zu den geöffneten Dachfenstern hinauf. Ja, so müsste es sein, dachte Leon, als er langsam durch die Gassen schlenderte. So war es sicher noch vor hundert Jahren, so konnte er sich das vorstellen.

      Sein Blick fiel auf ein sehr kleines Lädchen, das nun nur wenige Meter vor ihm lag. Das Haus war auffällig schmal, ja eigentlich nur eine Hälfte, die irgendwann einmal vor zweihundert Jahren in eine Baulücke zwischen zwei größeren Häusern hineingesetzt wurde. Das sah lustig aus, ganz anheimelnd, und er empfand bei dem Anblick ein fast warmes Gefühl. Die Sonne hatte das Häuschen gerade in ein helles Licht getaucht, und links sowie rechts der offen stehenden Eingangstüre stand jeweils ein hölzerner Stuhl, vor diesem ein winziger Tisch, auf dem dennoch eine hübsche kleine Blumenvase mit einem bunten Sträußchen gestellt war. In der Scheibe des einzigen Fensters neben der Tür war mit einem weißen Stift die kurze, knappe Weinauswahl des Geschäftes ausgeschrieben: Ein einziger Riesling, allerdings ganz offensichtlich in einigen Jahrgängen erhältlich. Leon gefiel nicht nur dieses halbe Puppenhaus mit seinem so winzigen Geschäft, auch der Name des dort ausgeschriebenen Weines fand er reizvoll: Liebeswölkchen. Wie romantisch, dachte Leon sofort, und da noch beide Stühle unbesetzt waren, diese Stelle tatsächlich ein wenig abseits und damit deutlich ruhiger lag, setzte er sich hin und dachte an die Empfehlung von Frau Theissen, sich doch einen schönen Riesling zu gönnen. Und es erschien ihm ganz plötzlich, als gäbe es keinen geeigneteren Platz, kein besseres Örtchen für dieses Vorhaben, als hier.

      „Guten Tag, der Herr!“ Eine sympathisch klingende Stimme, mit so typischem Singsang im Unterton, wie Leon es noch in der Zukunft erfahren sollte, ertönte hinter ihm, und Leon drehte sich um.

      Eine junge Frau stand in der Türe und lächelte ihn freundlich an. „Sie möchten meinen Riesling probieren?“ fragte das hübsche Gesicht, das unter einem lockigen, braunen Haarbüschel lustig hervorschien. Und Leon kam nicht umhin, sofort die blitzenden Augen zu bemerken, die ihn interessiert und fröhlich anstrahlten.

      „Gerne!“ antwortete Leon höflich. „Welchen Ihrer Liebeswölkchen können Sie mir denn empfehlen?“

      Die hübsche junge Frau trat einen Schritt aus der Tür auf Leon zu. „Nun, das hängt