Christer von Lindequist

Deutscher sein !?


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zu können.

      2. IM WELTALL

      Wir befinden uns mitten im Weltall und hören leise die Ouvertüre aus Richard Wagners „Tannhäuser“. Langsam wie auf einer drehenden Raumstation wendet sich der Blick den unendlichen Weiten der Erde zu, die in ihrer ganzen Pracht ins Bild schwebt und uns Europa zeigt.

      ERZÄHLER

      Wir schreiben das neue Jahrtausend. Alle Länder der Erde sind beseelt vom Patriotismus. Alle Länder? Nein! Ein kleines germanisches Volk leistet tapfer Widerstand!

      Mit den letzten Worten des Erzählers bohrt sich ein großer Speer in die Weltkugel, so wie in jedem Asterix-Heft auf der ersten Seite. Am Ende des Speers baumelt eine zerrissene, ausgeblichene deutsche Fahne, die schon bessere Tage gesehen hat.

      Ein lautes Knarzen aus seinem Kopfhörer holte ihn aus den Träumen zurück. Er konnte hören, wie der Kopilot funkte.

      „Hallo? ... Nein, noch nicht ... Über dem Friedrichstadt-Palast … In Ordnung, wir drehen noch eine Runde über dem Reichstag.“

      Er öffnete seine Augen. Es war ein schöner Spätsommertag. Die Abendsonne spiegelte sich in der Kuppel des Reichstags, dem sie sich langsam näherten. Wie oft war er dort oben gewesen und hatte den atemberaubenden Blick über Berlin genossen. Berlin, die Weltmetropole und Hauptstadt von Deutschland. Das Land, in dem er geboren und aufgewachsen war, das für ihn Heimat war. Sein Gedankengang brach abrupt ab.

      Er konnte jetzt die Wiese vor dem Reichstag sehen, doch sie war nicht grün, sondern bunt und bewegte sich. Als sie näher kamen, erkannte er den riesigen Menschenauflauf. Rund um den Reichstag, den Tiergarten entlang bis zur Siegessäule und zum Schloss Bellevue hatten Hunderttausende ihre Zelte aufgeschlagen. Es sah aus wie eine Mischung aus Love-Parade und Flüchtlingslager.

      „Meine Güte, das müssen Millionen sein!“, sagte Schulze schwer beeindruckt.

      Er hatte Recht, es waren Millionen. Wie viele, konnte man nur schätzen. Er hatte sie nicht aufgefordert zu kommen. Sie waren gekommen, um seine Freilassung zu fordern und die Regierung zu zwingen, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das jahrzehntelang ein Schattendasein geführt hatte.

      Er hatte nur einen vermeintlich kleinen Film über das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Land gedreht. Eine unterhaltsame deutsche Selbstreflexion. Niemand hätte auch nur im Geringsten voraussehen können, dass dieser Film die Republik derartig in Aufruhr versetzen würde.

      Begonnen hatte alles in Paris, vier Jahre zuvor. Patriotismus war ihm in Deutschland nie begegnet. In Frankreich war er überoffensichtlich und allumfassend. La Grande Nation eben. Davon konnte in Deutschland keine Rede sein, und er fragte sich warum. Es gab eigentlich keinen Grund, nicht von Deutschland begeistert zu sein. Er stellte sich diese Frage wieder und wieder, während er durch die Straßen von Montmartre schlenderte.

      Eines Abends sah er im Kino „Bowling for Columbine“ und in ihm platzte der Knoten. Wenn Michael Moore einen unterhaltsamen Film über das amerikanische Waffenproblem machen konnte, war dies auch die richtige Form, dem Patriotismus in Deutschland auf den Zahn zu fühlen.

      Ein unterhaltsamer Dokumentarfilm sollte es werden, persönlich, direkt und ganz nah an den Menschen. Ein Film über sein Verhältnis zu Deutschland und das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Heimat. Nächtelang arbeitete er an einem Drehbuch, schickte E-Mails mit Interviewanfragen an Politiker, Musiker, Manager, Sportler und Historiker. Er war sich sicher, dass das Interesse riesengroß sein würde. Die ersten Reaktionen waren durchweg sehr positiv, allerdings nicht bei den Politikern. Nur der Bundespräsident reagierte sofort und lud ihn zu einem Gespräch ins Schloss Bellevue.

      3. IN EINEM KINO, IRGENDWO IN DEUTSCHLAND

      Der Saal ist gut gefüllt. Es wird dunkel im Zuschauerraum. Der rote Samtvorhang öffnet sich. Langsam erscheint auf der Leinwand eine bildfüllende, im Wind flatternde deutsche Fahne. Eine sonore Männerstimme ertönt.

      ERZÄHLER

      Meine Damen und Herren, bitte erheben Sie sich für die Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland.

      Die ersten Takte des Haydn-Streichquartetts (Nationalhymne) sind zu hören, ganz leise und zart. Einige der Besucher stehen amüsiert auf. Die meisten bleiben irritiert sitzen.

      KINOBESUCHER

      Sind wir hier bei „Verstehen Sie Spaß?“, oder was?

      Sein Ausruf wird von der immer lauter werdenden Nationalhymne verschluckt. Als sie vorbei ist, klatschen einige Zuschauer.

      Das Treatment für seinen Film war schnell geschrieben. Die Ideen und Bilder sprudelten nur so aus ihm heraus. Nächtelang saß er in seinem kleinen Zimmer in Montmartre. Er wollte sich als schwedischer Austauschstudent ausgeben, Leute auf der Straße interviewen und aus dieser Sicht einen Film über Deutschland machen. Er wollte herausfinden, wo und wie die Deutschen patriotisch sind, worauf sie stolz sind, wie sie mit der Vergangenheit umgehen.

      Die Ergebnisse seiner Umfragen waren erstaunlich und entblößten die deutsche Seele dort, wo sie am empfindlichsten war. Nach drei Monaten Interviews in ganz Deutschland wurde ihm eines klar: Die Deutschen wollten zwar patriotisch sein, trauten sich aber nicht, weil sie nicht wussten, wie sie es sein könnten, ohne sofort als Neonazis abgestempelt zu werden. Es war ungewiss, ob er ein Publikum für seinen Film finden würde.

       Ich habe heute einen patriotischen Selbstcheck gemacht, unter dem Motto: Wie patriotisch bin ich? Um ehrlich zu sein: Das Ergebnis war ziemlich erbärmlich. Ich habe deutsche Symbole in meiner Wohnung gesucht, fand aber nur ein T-Shirt von der letzten WM, das mir mein Bruder geschenkt hatte. Kann ich mich also wirklich als Patrioten bezeichnen? Keine Frage, ich bin stolz auf Deutschland und bin froh, in Deutschland zu leben, aber ich zeige das in keinster Weise. Ich weiß noch, wie ich meinen Bruder in New York besucht habe und auf dem Weg zum Flughafen im Radio die Meldung hörte, dass „Oktoberfest“ das bekannteste deutsche Wort in der Welt sei. Ich besuchte meinen Bruder im Büro und traf dort auf seinen Chef.

       „Where are you from?“, fragte der.

       „Munich.“

       „Ah, Munich, Oktoberfest“, sagte er und lächelte breit.

       Ich schloss daraus, dass er schon einmal dort gewesen sein musste. Ich erzählte, dass ich im Radio gehört hätte, das „Oktoberfest“ das bekannteste deutsche Wort weltweit sei. Der Chef musterte mich für eine Sekunde. Dann sagte er:

       „Oh, really? I thought it was Holocaust.“

       In jeder anderen Situation, bei jedem anderen Thema, hätte ich gekontert wie ein Weltmeister, aber nicht hier. Und obwohl ich dachte, ich hätte gelernt, mit der deutschen Vergangenheit selbstbewusst umzugehen, wurde mir klar, dass genau das Gegenteil der Fall war.

       Ich frage mich: Sind wir so erzogen worden?

       Kann man so erzogen werden?

       Ich erinnere mich an viele Situationen, in denen ich zum Spaß meine deutsche Herkunft verschwiegen habe oder jemand auf Grund meines Namens gedacht hat, ich käme aus Schweden.

       Den anderen vorzuspielen, ich käme aus Schweden, war immer viel einfacher, als sich zu Deutschland zu bekennen. Vielleicht sind es auch meine zum Teil schwedischen Gene. Die Skandinavier machten auf mich immer einen sehr heimatbezogenen Eindruck, als wären sie quasi genetisch-patriotisch.