ein paar Jahre ad acta – bis…
Ja, bis mir der späte Zufall eine zierliche alte Dame mit silbernem Haar und graziler Gestalt zuführt. Sie sitzt in sich gekehrt, aber sehr aufrecht mir gegenüber. Ihre lichten Locken umspielen die Stirn und kräuseln sich über den Ohren. Ihr blaues Kostüm ist aus gutem Stoff, und die dunkelblauen Schuhe halten ihre Füße dicht beieinander. Sie sitzt da, als wartet sie darauf, dass der Fotograf kommt, um ein Porträt von ihr zu machen.
Ich kann nicht wegsehen und sie bemerkt mein Staunen. Wir lächeln uns zu, ehe sie sagt: »Heute geht es den Menschen so gut, und doch sind die Warteräume überfüllt.«
Wir kommen ins Gespräch über das Früher, das sie meint und an das die meisten alten Leute die stärksten Erinnerungen in sich tragen.
Wie durch göttliche Eingebung frage ich sie irgendwann nach der Sache mit dem Theater. Erst schaut sie mich merkwürdig an, dann legt sie ihren Kopf etwas schräg und besinnt sich: »Dieser Geiseler war sowas wie der Vorgesetzte von Werner.«
Und dann erzählt sie mir von diesem Werner, der mit dem Volkssturm im Theater Dienst zu tun hatte, bis es zu diesem Tage kam…
Ihre Stimme versagt für einen Moment. Aber dann erfahre ich eine Geschichte am Rande dessen, worum es mir ging. Es sollte Werners Geschichte sein, aber eigentlich ist es die Geschichte von Ilse Adams.
Ich werde jetzt ihre Geschichte erzählen. Stellvertretend für alle Menschen jener Zeit ist sie wert, aufgeschrieben zu werden. Es sind Schicksale, die Tausende Menschen erlebt haben könnten, die von der Welt längst vergessen sind.
EINE LIEBE IM VORHOF DER HÖLLE
Ich erzähle von einer jungen Liebe, von viel zu wenig Brot und ja, auch vom Tod. Der Retter des Theaters kommt nur am Rande drin vor.
Am Anfang stehen jene Worte, die Werner zu Ilse Adams gesagt hatte und die ich nach siebzig Jahren und mehreren Büchern über Menschen und Charaktere, über das Leben und das Dahinleben, mit gutem Gewissen niederschreiben kann:
»Die neue Welt wird nicht besser sein. Jeder wird wieder sein Recht behaupten. Und jeder wird Recht haben. «
ILSE
Der Vormittag war lang gewesen. Maria Adams war erschöpft und das Letzte, worauf sie jetzt Lust hatte, waren Fragen ihrer Chefin, warum sie niemals am Nachmittag länger bleiben konnte. Frau Heider stützte die Handballen in ihre Hüften und zeigte mit verbissenem Mund auf den Stapel unverpackter Kundenaufträge, die rechtzeitig vor Weihnachten an die Auftraggeber ausgeliefert werden mussten. Aus ihrem Gesicht war abzulesen, ob es Maria nicht selbst am Herzen läge, schließlich sei es ihre Arbeit.
Es war kein Problem für Maria, die vereinbarten Botengänge zu absolvieren. Nicht so, wie es schien.
Wenn Maria allerdings ihre Tochter Ilse nicht einspannen könnte, die täglich mit Kartons bepackt in alle Stadtteile lief und erledigte, was zu Marias Aufgabe als Modistin bei der Firma Heider gehörte, könnte sie das Zubrot aus dem nahen Trachtenladen nie und nimmer verdienen.
Wie würdest du mit dem schmalen Lohn der Heiders drei hungrige Mäuler stopfen können?
Maria erschrak bei ihrem Gedanken an drei Menschen. Niemals durfte sie auch nur so denken. Niemand durfte wissen, wo Max sich versteckte. Schon gar nicht, dass sie bisweilen für ihn sorgte. Kommunist zu sein war schlimmer als Sorbe oder Wende, und nicht arisch zu sein, war in dieser Zeit schlimm genug. Das wurde ihr nicht nur im Trachtenladen bewusst.
Max war vor zehn Jahren in einem Massen-Hochverrats-Prozess mit anderen Kommunisten zu beinahe zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Wie er sich aus der ständigen Polizeiaufsicht danach hatte befreien können, war Maria nicht klar, und Max sprach nicht darüber.
Ilse lief durch die Stadt, dem Markt entgegen. Es war kalt, aber noch trug sie ihre Spangenschuhe über dicken Wollsocken, die bis zu den Waden reichten und die ihre langbestrumpften Beine etwas mehr wärmten. Über ihr braunes, gescheiteltes Haar hatte sie eine Filzkappe gestülpt, eine, die fehlerhaft war, weshalb Frau Heider sie Ilse für einen Extra-Botengang geschenkt hatte. Wenn Frau Heider wüsste… Die meisten Kundengänge erledigte sie inzwischen für ihre Mutter — heimlich. Mutter sagte: »Die Heiders müssen ja nicht gleich misstrauisch werden.«
Ob es wegen dem Bissen Zubrot war, den Mutter im Trachtenladen verdiente, oder wegen Max? Oder wegen dem Trachtenladen als solchen? Schließlich kam Mutter aus dem Spreewald…
Was der Grund war, störte Ilse nicht. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, alltäglich mit den Kartons und Tüten die Stadt zu durchstreifen. In dieser Zeit hatte sie keine andere Chance, als mit Hilfsarbeiten die Mutter zu unterstützen. Vielleicht, wenn der Endsieg endlich erreicht ist, kann sie ihren Wunschberuf erlernen — Frisörin.
Im Moment ginge das nicht, sagte die Mutter. Und irgendwie hatte sie vermutlich Recht. Die meisten Frauen trugen die Bunkerfrisur — eine von der Stirn nach oben aufgetürmte Haartolle, die mit Kämmchen zusammengehalten wurde. Für die modernen Brennscheren-Frisuren der feinen Damen reichten die Frisörinnen in den Salons der Stadt offenbar aus.
Ilse hüpfte fröhlich über die zugefrorenen Pfützen. Bald war sie an der Unterführung in der Dresdener Straße. Unter der Brücke stand ein Soldat, über die Brücke rollte ein Güterzug mit schwerer Fracht vollbeladen in Richtung Ost. Vermutlich Kriegsmaterial, um dem Rückzug der deutschen Truppen, den nur Max mit freudiger Genugtuung quittiert hatte, wieder Einhalt zu gebieten.
Von der Unterführung aus hatte sie nur noch die Hälfte des Weges vor sich. Vorerst, denn die Kunden, zu denen sie am Nachmittag die Waren bringen musste, wohnten überall in der Stadt verteilt. Einige sogar außerhalb. Seit ihr Fahrrad kaputt war, waren die Wege besonders lang und besonders beschwerlich. Max hatte versprochen, das klapprige Rad zu reparieren, aber es fehlte etwas an der Bremse, was sie dem Händler nicht erklären konnte. Und weil Max nicht selber gehen konnte …
Schon wieder Max. Mutter würde ihr zürnen, wenn sie auch nur den Anschein erweckte, Max gehöre zu ihnen… Sie wusste zwar, dass er nachts oft nicht in seinem Versteck war. Aber so richtig wusste sie nicht, wovor er sich versteckte und was er auf dem Kerbholz hatte. Wenn er aber nachts aus dem Keller verschwand, dann musste er schließlich Freunde haben, die auch mal etwas für ihn besorgen könnten.
Es half nichts, ohne ihr Fahrrad musste sie für unbestimmte Zeit zu Fuß gehen. Die Groschen für die Bahn sparte sie auf. Für das, was ihr die Botengänge zusätzlich einbrachten — sofern es nette Kundschaft war — konnte sie vielleicht mal wieder eine Kinokarte kaufen. Die Zeit war zum Versauern. Sogar das Theater hatte man kürzlich eingestellt. Auf den Tanzboden durfte sie noch nicht. Welche Freude blieb ihr also…?
Wenn die Oberen nicht wollten, dass die Jugend sich vergnügt, würden sie in dieser unsicheren Zeit keine teuren Filme drehen. Dann würden auch Filmschauspieler wie Heinz Rühmann, Hans Albers, Willi Fritsch und die vielen anderen zu einer Kriegsaufgabe verpflichtet werden.
In den Kammerspielen lief gerade «Wir machen Musik« mit Ilse Werner und Viktor de Kowa.
Ilse, was für ein schöner Name…Erst recht Ilse Werner. Und wie die pfeifen kann…
Manchmal, wenn Mutter es erlaubte, hörte sie Radio. Das war bald so wie Kino, wenn der Kopf nur genug Phantasie hatte. Sie musste den Film unbedingt sehen — allein ihres Namens Ilse wegen, und überhaupt. Musik brachte stets romantische Gefühle.
Wenn sie ihre Haare so wie Mutter kämmen würde, sähe sie vielleicht etwas älter aus, und niemand würde Anstoß daran nehmen, wenn sie, noch nicht achtzehnjährig, allein in einem Liebesfilm saß.
Sie trafen sich am Kaiser-Wilhelm-Platz. Die Mutter schaute sich mehrmals um, als gingen sie beide auf Diebestour. Ilse atmete auf. Es waren heute nur vier Pakete. Drei Hutschachteln und eine Tüte