Maxi Hill

Liebe, die auf Trümmern wächst


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Eine in der Promenade hinter der Stadtmauer — vermutlich eine der Villen, wo es durchaus mal wieder einen Groschen zusätzlich gab. Und eine im Hotel Berliner Hof direkt an der Bahnhofsbrücke. Die wollte sie zuletzt anlaufen und dann über den Bahnhofsberg zurück nach Hause gehen.

      Das Haus sah genauso aus, wie Ilse es in der Erinnerung hatte. Eine weiße Villa, beinahe im griechischen Stil. Leider kannte sie sich nicht aus mit den architektonischen Epochen und Stilen. Jedenfalls wurde das Eingangsportal von Säulen gesäumt, die bis unters Dach reichten. Die Mutter hatte ihr eingebläut, bei den Villen in der Promenade und noch an anderen Orten niemals an den herrschaftlichen Türen zu läuten, immer zuerst danach zu schauen, ob es Boteneingänge gab. Und den leidigen Gruß sollte sie auch niemals vergessen…

      Über die Stadt senkte sich kalter Dunst. Morgen früh könnte die Welt wie verzuckert aussehen, was Ilse normalerweise liebte. Nur eben jetzt nicht mehr, seit die Kohlen knapp waren und das Brennholz schwand. Die Leute rieben sich die Hände und stampften mit den kalten Füßen härter auf als gewöhnlich. Auch Flüche krochen aus den dampfenden Mündern. Der Park war jetzt trist. Die Bäume kahl und die Menschen, die zu anderen Zeiten hier flanierten, hatten sich vermutlich in die leidlich warmen Stuben zurückgezogen.

      Ilse kam am Zaun an und blieb stehen. Alle Villen — aufgereiht wie eine Perlenkette — hatten Zäune und schmale Vorgärten, in denen sommers bunte Blumen und gut beschnittene Buchsbäume, aber auch übel riechender Wacholder den Prunk der Häuser umrahmten. Von einem Dienstboteneingang war nichts zu sehen. Es waren aber zwei Klingelknöpfe vorhanden. Ob der, den sie drückte, überhaupt funktionierte, konnte sie hier draußen nicht ausmachen. Es rührte sich nichts. Sie schaute die Promenade entlang. Was tun?

      WERNER

      Sie hatte seine Anwesenheit noch immer nicht bemerkt. Werner stand still seitlich hinter dem Verschlag, der den Dienstboteneingang vor Schnee und Regen schützte. So was Hübsches, dachte er. Dennoch hatte er das Gefühl, dass sich der junge Körper des Mädchens vor Kälte krümmte. Sie vergrub eine ihrer Hände in ihrer Manteltasche. Die andere, ohne Handschuh rotgefroren, trug zwei Pakete.

      In einem Anflug von Mitleid lief Werner zum Tor, um nachzuschauen, warum sie nicht näher kam. Es war ihm, als fuhr sie wie in einem Schrecken zusammen.

      »Heil Hitler«, stotterte sie verlegen. »Ich komme von Heiders Modeladen«, sagte bibbernd ihr Mund. »Bringe die Bestellung Ihrer Frau Mutter.«

      »So, so«, erwiderte Werner und schluckte. Jetzt war er verlegen und wusste nicht recht, mit ihrer Vermutung umzugehen. »Dann wollen wir doch mal sehen…«, fiel ihm ein, nichts weiter.

      Das Mädchen zögerte, den richtigen Karton auch nur anzudeuten. Vermutlich war sie an ein Botengeld gewöhnt, das er ihr freilich nicht geben konnte.

      »Wenn du ein bisschen warten kannst…«, sagte er kühn, ohne zu wissen, was er damit bezweckte. Er wusste nur eines: Dieses Mädchen mit der feschen Kappe, die schräg über dem langen dunklen Haar saß, mit den dunklen Kulleraugen und den dunkelroten Socken, so rot, wie ihre Kappe, dieses Mädchen war das Abbild dessen, was er sich täglich anzuschauen vorstellen konnte.

      In seinem Kopf wuchs blitzschnell ein kühner Plan.

      »Sie wird gleich hier sein«, log er, genau wissend, wann die Frau des Hauses gedachte, zurück zu sein. Er gab ihr einen Wink und ging ein paar Schritte voraus. An der Ecke drehte er sich wieder um, ziemlich sicher, dass dieses schüchterne Kind ihm nicht so einfach folgen würde. Todsicher hat man ihr Gleiches eingeschärft wie ihm auch: Zurückhaltung.

      »Du willst doch hier draußen nicht anfrieren?«

      Ganz unbewusst zog er die rechte Braue hoch, was gewöhnlich wie eine freundliche Aufforderung wirkte. Sie schlug die Augen nieder, setzte aber einen Fuß vor den anderen, vorsichtig mit den Kartons jonglierend.

      »Wenn wir schon mal hier sind, nehmen wir gleich den Hintereingang«, sagte er und gab seinem Gesicht einen hoffentlich verschlagenen Ausdruck. »Ist ja schließlich ein Botengang von dir, oder …?«

      »Ich kann auch später noch einmal wiederkommen, wenn sie…«

      »Nix da, es wird schon nicht so lange dauern wie der Endsieg.« Ob diese Bemerkung gut war? Er wusste es nicht, aber wenn er das Leben um ihn herum je richtig kapiert hat, dann waren diese Botengänger eher vorsichtig damit, auszuplaudern, was sie in herrschaftlichen Häusern erlebten. Auf jeden Fall musste er verhindern, dass sie doch noch einen Rückzieher machte. Er öffnete die Hintertür, ließ sie eintreten und ein paar Stufen tiefer steigen. Bei jeder Stufe zuckten ihre Füße, als wollte sie umkehren, doch die Wärme der Heizungsanlage, die er zu bedienen hatte, schlug ihnen gar zu wohlig entgegen. Ihm war, als entkrampfte sofort ihr Gesicht, und die Schultern streckten sich wieder jugendlich.

      Werner griff beherzt nach den beiden Hutschachteln und ließ ihren Einwand nicht gelten. Sehr rasch führte er sie an der Tür vorbei, hinter der seine Bleibe war. Dann stieg er mutig die Treppe zum Vestibül hinauf.

      Oben, noch ehe ihre Augen sich weiteten und wieder dieses Erstarren zu spüren war, reichte er ihr die Hand und sagte: »Ich bin Werner, und wer bist du?«

      Und dann geschah das Unvorhersehbare. Beinahe prustete sie ihren Namen heraus, der doch gar keinen Grund zur Lächerlichkeit bot.

      »Ich heiße Ilse.« Sie zupfte verlegen am Mantelkragen und gab ihrer Stimme einen belustigten Ton: »Ilse? Werner?« Ihm schien, als fragte sie etwas. Dass sie plötzlich aus ihrem kalt gefrorenen Gesicht strahlte wie der Morgenstern, kam keiner Frage gleich. »Da läuft gerade ein Film mit Ilse Werner, meinte ich…« Ihre Lippen bebten. »Verzeihung.«

      »Gar nicht verziehen.« Werner fand immer mehr Gefallen an ihrer Natürlichkeit. »Wenn dir so viel an unseren beiden Namen liegt… Dann gehen wir gemeinsam in den Film…«

      »Das darf ich nicht«, wiegelte sie ab. Vorerst musste er sich damit begnügen. Noch wollte er das süße Missverständnis, dem sie unterlag, nicht auflösen.

      Im Vestibül angekommen, verschlug es Ilse den Atem. Das weiße Haus mit seinem Portal aus dorischen Säulen, mit schmückenden Kapitellen und Pilastern war nach der Meinung des jungen Herrn im Jugendstil errichtet, was Ilse schon wegen der Farbe nicht glauben konnte. Zeit, seine Weisheit anzuzweifeln, hatte sie nicht. Er erzählte gerade frei heraus, wie aufgeregt er war, als er in diesem Haus seine Bleibe bekommen habe — ein Glücksumstand in seiner Zwangslage. Etwas Besseres hätte er sich nie träumen lassen. Inzwischen wisse er, dass jeder Vorteil auch seinen Tribut fordere. Welchen Tribut einer wie er zu zahlen hatte, schien Ilse nicht klar zu sein. Und sie erfasste in ihrer Aufregung den Zweck nicht, den Werner verfolgt hatte.

      Das Bild, das sich Ilse in der großen Vorhalle bot, verschlug ihr den Atem. Zwei prächtige Säulen am Treppenende strebten bis unters Dach und trugen eine Kuppel aus farbigem Glas, das jedem Licht den Schein der Sonne verlieh. Der Fußboden war — wie auch die Säulen — aus italienischem Marmor gearbeitet. Diese Pracht kannte Ilse nur von Bildern aus Schlössern und von Hotels, an denen sie immer verschämt vorbeigeschlendert war, wenn nicht, wie gerade heute, einmal ein Auftrag von dort kam. Die Treppe beschrieb einen Halbkreis, und die Stufen trugen dasselbe feine, rötliche Muster im sandfarbenen Marmor wie der Fußboden der Vorhalle. Hinter einer vorgelagerten Wand seitlich vom Portal auf einem Sockel drei kunstvolle Figuren aus weißem Porzellan.

      »Ist das alles echt?«, platzte sie heraus und ärgert sich sofort über ihre naive Neugier.

      »Ist es denn schön?«, fragte der junge Herr und lächelte verschlagen über Ilses Atemlosigkeit.

      »Sehr!«

      »Dann ist es auch echt.«

      Sie drehte sich vor Bewunderung im Kreis und ihr wurde schwindelig davon. Dieses Haus ist ein Vermögen wert, dachte sie, und sie dachte, wie schön, dass sie so etwas auch einmal von innen sehen darf. »Es gehörte mal einem Juden«, sagte er so leise, dass sie kaum glaubte, richtig gehört zu haben. »Der ist jetzt über ’n Jordan…«

      Für