– ich kann mir allein helfen.« Das klang ziemlich abweisend unter der gefaßten Vornahme. Gar nicht so liebenswürdig, wie das sonst Annemaries Wesen entsprach.
Der Fremde zog den Hut und schritt davon.
Hatte sie ihn beleidigt? Das war nicht ihre Absicht gewesen, wo er sich ihr gegenüber doch immerhin freundlich gezeigt hatte. Na, deshalb machte sich Nesthäkchen kein unnötiges Kopfzerbrechen. Wahrscheinlich würde es den Betreffenden im ganzen Leben nicht wieder zu sehen bekommen.
Nun mal erst ein Hotelzimmer, daß sie ihr müdes Haupt heute Abend betten konnte. Und dann auf den Stadtbummel. Morgen lachte sie Marlene und Ilse aus, daß sie die schöne Barockstadt nun doch zu sehen bekommen hatte.
Vorläufig aber lachte Annemarie nicht. Denn es war nicht so einfach, ein Zimmer in einem der Hotels zu bekommen. Weder auf dem großen Platz hinter dem Bahnhof noch in der Kaiserstraße, die in das Stadtinnere führte. Hotel neben Hotel, Annemarie lief kreuz und quer – überall besetzt. Nirgends ein Zimmer frei. Die erste Frage lautete stets: »Haben Sie Zimmer bestellt?« Und wenn das junge Mädchen dann wahrheitsgemäß verneinte, zuckte der Herr Geschäftsführer die Achsel. Wie konnte man auch in heutiger Zeit annehmen, daß man unangemeldet ein freies Zimmer finden könnte. Ja, mancher sah sie sogar mißtrauisch an, weil sie kein Gepäck bei sich hatte. Wäre es nicht doch vielleicht besser gewesen, die freundliche Hilfsbereitschaft des fremden Herrn, der hier Bescheid wußte, anzunehmen?
Nun war es zu spät dazu. Man mußte anderweitig Rat schaffen. In den Bahnhofsanlagen zu kampieren, dazu waren die Nächte noch zu kühl. Und auch zu unheimlich war's dort. Der Wartesaal erschien ihr auch nicht sehr einladend. Annemarie sehnte sich nach der langen Bahnfahrt danach, die Glieder heute Abend in einem Bett auszustrecken. Ob sie es dort drüben an der Ecke noch mal versuchte? Sehr vertrauenerweckend sah der Gasthof zum »Bunten Hahn« nicht aus. Ziemlich schmutzig, eine Unterkunft zweiten, wenn nicht gar dritten Ranges. Aber immerhin besser als gar nichts. Die ebenfalls recht verwahrlost ausschauende Wirtin führte das junge Mädchen über eine verbaute Stiege in ein kleines Zimmer nach dem Hof heraus. Dasselbe war kaum notdürftig möbliert. Die Bettüberzeuge rot und weiß gewürfelt.
Unmöglich – das war Nesthäkchens erster Gedanke. Hier würde nicht mal Hanne schlafen. Aber der zweite Gedanke sagte: Besser als gar nichts. Gegen ihre sonstige Gewohnheit folgte Annemarie nicht sogleich dem ersten Impuls, sondern überlegte. Und das Resultat dieser Überlegung war, daß sie blieb.
Schnell sich mit Wasser und Seife ein bißchen erfrischen – ach Gott, Seife! Die reiste ja mit ihrem Reisenecessaire augenblicklich nach Stuttgart. Na, es gab ja hier genug Geschäfte, wo sie die notwendigsten Toilettengegenstände erstehen konnte. Nur flink, daß sie noch vor Dunkelheit etwas von Würzburg zu sehen bekam. Vor allem das Schloß, das ein besonders schöner Barockbau sein sollte. Sonst hieß es sicher, sie sei in Rom gewesen und habe den Papst nicht gesehen.
Eine halbe Stunde später sah man Doktor Brauns Nesthäkchen frohgemut durch die Straßen von Würzburg schlendern. Annemaries glückliches Naturell hatte sie das kleine Reisemissgeschick schon längst vergessen lassen. Sie war ihrem guten Stern dankbar, der sie in den schönen, alten Schlossgarten mit den verschnörkelten Wegen und all den Barockfiguren, von hellem Frühlingsgrün umsponnen, geführt hatte. Auf einer Steinbank sitzend, schmauste sie abwechselnd Backwerk und Apfelsinen, die sie unterwegs gekauft, lauschte sorglos dem Gezwitscher der Vögel und dachte mit keinem Gedanken daran, daß Marlene und Ilse sich um ihren Verbleib sicher Sorgen machen würden.
Dann ging es zur Universität, denn das war sie ihrer Würde als Studentin doch schuldig. Aus den Hofgärten der alten Häuser zu Würzburg duftete fast überall blühender Flieder. Blau, weiß, rot – ein schier endloses Blühen und Duften. Immer weiter schritt Annemarie in den herrlichen Frühlingsabend hinein. Ihr war so leicht, so frei zumute wie dem Vogel in der Luft. Jetzt stand sie an einem breiten Fluß. Nachen und Flöße zogen auf demselben dahin, lichtgrüne Hügelketten besäumten das jenseitige Ufer. Und über das ganze Bild stülpte sich, durchsichtig wie eine Glasglocke, zartviolett abgetönter Abendhimmel. War das schön!
Ein Gartenrestaurant, ganz versteckt unter Fliederbüschen, von dem aus man den Blick über den Strom hatte, lockte Annemarie. Sie hatte rechtschaffenen Hunger, und in ihrem wenig einladenden »Hotel« mochte sie nicht zu Abend speisen. So stieg sie das Steintreppchen zum »Weißen Lamm« empor.
»Gibt's hier ein Spezialgericht in Würzburg?« fragte sie den Kellner, eingedenk, daß Hans von seiner Studienreise einst erzählt hatte, jede Stadt habe ihre besonderen Gerichte.
»Ja, unsere Spezialität hier ischt Pfannkuche«, lautete die Antwort.
»Na, dann bringen Sie mir mal Pfannkuchen«, bestellte Annemarie, trotzdem sie dieselben eigentlich zum Kaffee oder Silvesterpunsch geeigneter fand als zum Abendessen. Aber wie angenehm war sie enttäuscht, als der Kellner mit einem prächtigen Eierkuchen erschien. Also das nannte man hierzulande Pfannkuchen. Sie wollte es sich merken.
»Was trinkt man denn hier?« Annemarie wollte durchaus stilgerecht in Würzburg speisen.
»Halt a Moscht«, schlug der Kellner vor.
»Moscht – was ist denn das?«
»Moscht ischt halt Moscht«, erklärte der Kellner überzeugungsvoll.
Aber als sie dann das apfelweinsäuerliche Getränk kostete, stieß das Naturkind ein vernehmliches »Pfui, Deixel!« hervor.
Sie begann mit dem Kellner eine Unterhaltung.
»Ist das der Neckar?« fragte sie, auf den Fluß weisend.
»Aber nimmer – das ischt halt unser Main.«
»Bald gras' i am Neckar, bald gras' i am Main«, begann Annemarie unbekümmert zu summen.
»Sie sein halt nit von hier?« Der Mann konnte sich gar nicht beruhigen, daß man das nicht wußte.
»Nee«, machte Nesthäkchen im echten Berliner Dialekt, und begann sich nun doch etwas seiner Unbildung zu schämen. Trotz Abiturientenexamens hatte Geographie niemals zu Annemaries stärkster Seite gehört. Der Kellner würde es ihr wohl nicht weiter verübeln, und der einsame Gast, der dort hinter den Fliederbüschen saß, war in seine Zeitung vertieft.
»Bleiben's hier bei uns in Würzburg?« Der Kellner fühlte sich jetzt verpflichtet, die hübsche junge Dame zu unterhalten.
»Nee, ich fahre morgen nach Stuttgart und dann weiter nach Tübingen.«
»Ach, nach Stuckart wollen's? Da kenn' i mich auch aus. Da hab' i halt auch mal konditschoniert.«
»Wo speist man denn da am besten?« erkundigte sich Annemarie, welcher der Eierkuchen mundete.
»In Stuckart allemal am beschten im ›Elefant‹.«
»Danke vielmals.« Annemarie zog ein kleines Notizbüchlein aus dem Täschchen und schrieb sich den Elefanten auf. Wie würden sich Marlene und Ilse freuen, wenn sie ihnen ein so gutes Lokal empfehlen konnte.
Der Herr hinter der Fliederhecke war schon lange aufmerksam geworden. Nur zum Schein hatte er die Zeitung noch vor dem Gesicht, um umso unauffälliger dem Gespräch lauschen zu können. Jetzt erhob er sich mit plötzlichem Entschluss.
»Gnädiges Fräulein, der Stuttgarter ›Elefant‹ mag ja ganz gut sein, aber für junge Damen ist das sicher nit der geeignete Aufenthaltsort. Ich bin halt aus Stuttgart und weiß dort Bescheid«, mischte er sich plötzlich in die Unterhaltung.
Annemarie blickte überrascht hoch. Es dämmerte bereits; aber – war das nicht ... die braunen Haare, die grauen Augen, das schmale Gesicht ... natürlich, das war ja der fremde Herr vom Bahnhof, den sie hatte abfallen lassen. Nun hatte sie sich schon wieder vor ihm blamiert. Wie peinlich, daß sie den Main mit dem Neckar verwechselt hatte!
»Danke sehr für Ihren Rat«, sagte sie möglichst von oben herab, »ob ich ihn befolgen werde, weiß ich noch nicht.«
»Verzeihung, wenn ich halt zudringlich gewesen bin.« Der Fremde zog sich wieder an seinen Tisch zurück.