Else Ury

Nesthäkchen fliegt aus dem Nest


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Sie bitte.« Der schüchterne, bescheidene Ton dieser Stimme ließ Annemarie jäh den Kopf wenden. Hellblonde Haare schauten unter dem großen Hut hervor und »Ilse!« – jubelnd umfing Nesthäkchen, unbekümmert um die übrigen Insassen, die »Rücksichtslose«.

      »Haben wir dich endlich wieder – Gott sei Dank!« Das war ein Hinüber und Herüber von einem Kastenabteil zum andern, als ob sich Menschen, die jahrelang auf verschiedenen Erdteilen gelebt haben, unvermutet wieder treffen.

      »Jetzt wirst du aber fest an die Leine genommen, daß du nicht wieder entlaufen kannst, Annemarie. Wir waren sehr in Sorge um dich.«

      »Ja, Marlene hat sogar schon heiße Tränen um dich vergossen.«

      »Ich bin eben kunstbegeisterter als ihr und wollte mir die berühmte Barockstadt Würzburg ansehen. Als Zugabe habe ich noch eine nette Bekanntschaft gemacht, durch die wir uns vielleicht auch in unserer neuen Heimat leichter einbürgern werden.«

      »Junges Mädchen?«

      »Nee – junger Herr.«

      »Wa–as? Man braucht doch bloß den Rücken zu wenden, sobald unser Nesthäkchen allein ist, macht es Unfug«, neckte Ilse.

      »Du, ich habe die Verantwortung für dich übernommen«, meinte Marlene halb ernst, halb scherzhaft.

      »Dann wundere ich mich, daß du bei deiner großen Sorge um mich nicht heute morgen am Bahnhof warst, um mich in Empfang zu nehmen.«

      »Ilse hielt es für ausgeschlossen, daß du Langschläferin den ersten Zug vor Tau und Tag benutzen könntest. Wir glaubten, du kämst erst mit dem Mittagszuge. Aber als du dich da auch noch nicht einfandest, machten wir uns ernsthaft Gedanken. Ich wollte schon an deine Eltern telegraphieren.«

      »Na, das hätte noch gefehlt!«

      »Warum bist du denn aber heute morgen nicht gleich ins Hotel Monopol gekommen, Annemarie?« forschte Ilse.

      »Weil ich den Namen verschwitzt hatte, du Schlaukopf. Wie ein verlorenes Schaf bin ich auf der Suche nach euch von Hotel zu Hotel geirrt. Ich wollte schon einen Steckbrief hinter euch her erlassen.«

      »Und wo bist du nun abgestiegen?«

      »Pikfein! – Hotel Zontinen-Tal mit hellblauer Seidensteppdecke und Kachelbad.«

      »Annemarie, das muß doch ein Heidengeld kosten.« Ilse machte erschreckte Augen.

      »Bewahre – bloß fünfzehn Mark die Nacht.«

      »Aber Annemie, bist du denn ganz und gar übergeschnappt – – –.«

      »Du hast ja Größenwahnsinn – ich werde dir deine Kasse abnehmen.« Auch Marlene war entsetzt.

      »Dafür habe ich in der vergangenen Nacht auf einem Holzstuhl kampiert«, lachte die ausgelassene Annemarie.

      »Heute siedelst du noch zu uns über. Das dritte Bett in unserm Zimmer wartet auf dich. Der Herr Zontinen-Tal wird sein Zimmer noch zehnmal los. Du darfst nicht eine Sekunde mehr ohne Aufsicht bleiben.«

      »Ich werde es mir noch überlegen, ob ich eure Schnarchgesellschaft einer hellblauen Seidendecke vorziehe.«

      Unter solchen übermütigen Neckereien, an denen auch die Mitfahrenden unfreiwillig lächelnden Anteil nahmen, war die Höhe erreicht.

      Marlene hängte sich rechts, Ilse links in den Arm der glücklich Wiedergefundenen. Diesmal ließ sich Doktors Nesthäkchen das Unterfassen gefallen.

      »Frei dürfen wir dich nicht mehr herumlaufen lassen, sonst brennst du uns am Ende wieder durch.«

      »Warum nicht, wenn mein ›Zavalier‹ aus Würzburg hier wäre –«, so hatte das kleine Nesthäkchen als Abc-Schütze einst zum Gaudium der Brüder das Wort Kavalier gelesen, und diese Bezeichnung war in der Braunschen Familie beibehalten worden.

      »Ach, du schwindelst ja – – –.«

      »Du willst uns bloß neugierig machen – wie sah er denn aus?«

      »Du brauchst gar nicht erst neugierig gemacht zu werden. Du bist es schon, Ilse«, lachte Annemarie. »Also braune Haare, glaub' ich, hatte er, Augenfarbe weiß ich nicht, denn es war schon dunkel. Und Stuttgarter Dialekt sprach er ganz reizend – – –«

      »Schwindel!« sagten die beiden Cousinen wie aus einem Munde.

      »Na, wenn ich seine Schwester, die in Tübingen studiert, aufsuche, werdet ihr mir wohl glauben«, beteuerte Annemarie.

      Die beiden wußten nicht, war es Ernst oder war es Scherz. Annemarie war sowohl eine lustige Flunkerei wie ein übermütiger Streich zuzutrauen. Jedenfalls erhöhte dies noch die fidele Stimmung der drei, die im rosigen Abendlicht zwischen junggrünen Rebstöcken singend dem talwärts gelegenen Stuttgart zumarschierten.

      Es war nicht so einfach, Annemarie von ihrer hellblauen Steppdecke und ihrem Kachelbad loszulösen. Der vornehme Herr Geschäftsführer des Hotels Zontinen-Tal beanspruchte durchaus den vollen Preis für das Zimmer. Schließlich einigte man sich auf die Hälfte. Fünf Minuten später war das Zimmer bereits wieder besetzt.

      Doktors Nesthäkchen aber schlief auch ohne die seidene Steppdecke den Schlaf des Gerechten und war am nächsten Morgen kaum ins Leben zurückzurufen.

      Etwas später entführte das gen Tübingen gehende »Zügle« die drei. Von nun an fuhr man nur noch standesgemäß vierter Klasse.

      Das erste, was die zukünftigen Studentinnen von ihrer Universitätsstadt zu sehen bekamen, war eine Schafherde. Auf der Wiese gleich hinter dem Bahnhof weidete sie und empfing die Ankömmlinge mit wehmütigem »Mäh – mäh«.

      »Der Willkomm ist sehr verheißungsvoll!?« lachte Annemarie. »Hoffentlich halten sie uns nicht für Kollegen.«

      »Der Blaustrumpf, den der Schäfer in der Hand hat, ist sicher eine zarte Aufmerksamkeit für uns. Übrigens ein famoses Bild! Wie der strickende Wotan sieht der Alte da mit seinem Schlapphut und seinem Spitz aus!«

      »Ich kenne Wotan weder mit Strickzeug noch mit Spitz«, lachte Ilse ihre Intima aus. »Aber in Urzeiten glaubt man sich wirklich hier zurückversetzt. In meinem Leben habe ich kein Schaf gesehen.«

      »Sehr schmeichelhaft«, meinte Marlene, während die unverbesserliche Annemarie trocken hinwarf: »Du pflegst doch oft genug in den Spiegel zu sehen, Ilse.«

      Dieses Kompliment trug ihr natürlich einen freundschaftlichen Knuff ein. Wie übermütige Schulgören, nicht wie erwachsene junge Studentinnen, hielten die drei Freundinnen ihren Einzug in Tübingen.

      »Zuerst nehmen wir uns ein Hotelzimmer und suchen uns dann in Ruhe eine passende Wohnung«, schlug der Reisemarschall Marlene vor.

      »Bude heißt es«, verbesserte Doktors Nesthäkchen, das von den Brüdern her mit studentischer Redeweise vertraut war.

      Nachdem man den Reisestaub abgeschüttelt, ging es auf die Wohnungssuche.

      Dies war durchaus nicht so einfach.

      Bald war Annemarie nicht von der Neckarbrücke fortzukriegen, da sie durchaus sofort eine Bootfahrt machen wollte und bereits mit einem Kahnvermieter Unterhandlungen anknüpfte. Bald blieb Ilse, das Baumeisterskind, zurück, um das entzückende alte Stadtbild, das sich terrassenartig am Neckarufer aufbaute, gebührend zu bewundern.

      »Seht doch bloß, wie die mittelalterlichen Giebelhäuser den Berg heraufklettern, als ob sie sich überpurzeln, und hoch oben als Bekrönung das alte Schloß Hohentübingen – famos!«

      »Ilse, du hast noch ein ganzes Jahr Zeit, die Schönheit Tübingens zu bewundern«, mahnte die zielbewußte Cousine. »Aber zum Wohnungsuchen haben wir nicht so lange Zeit.«

      »Pedant!« schalt Annemarie. »Da haben wir uns ja recht nett mit dir verheiratet. Wir wenden uns einfach an die Schwester meines Würzburger Freundes. Die wird uns sicher gern in der schwierigen Wohnungsangelegenheit behilflich sein.«

      »Einverstanden.