Michael Stuhr

DÄMONEN DER STEPPE


Скачать книгу

sich selbst zu konzentrieren, denn schon bald kam Dax, Sohn von Sirani und Oros, zu ihrem Rudel, und natürlich fingen die Eifersüchteleien sofort wieder an.

      Ysell merkte kaum, wie die Zeit verging. Sie versorgte ihre Hunde und versuchte, aus den ungezügelten Jungtieren so etwas wie ein aufeinander abgestimmtes Rudel zu formen. Läufer war, nach ihr natürlich, der Anführer des Rudels und er hatte mittlerweile auch genug Verstand, Ysell in ihren Bemühungen zu unterstützen. Dax erwies sich als sehr willensstarker und ehrgeiziger Hund und setzte sich, obwohl er der Jüngste war, sehr schnell gegen Reißer durch. Läufers Vorrangstellung wurde von Dax allerdings nur ein einziges Mal in Frage gestellt, und als Ysells Strafjahr, über das übrigens nie wieder gesprochen wurde, vorbei war, war aus Läufer ein prachtvoller Trosshund und hervorragender Anführer geworden, der die Kommandos seiner Aufspürerin bis in die kleinsten Einzelheiten hinein verstand. Dax und Reißer hatten noch einiges zu lernen, aber das würde sich finden, denn jetzt sollten die Tiere beginnen, zusammen zu arbeiten. Bald schon würden Ysell, Läufer, Dax und Reißer mit den anderen zusammen vor die Stadt in die Sandfelder ziehen.

       SABÉ

      Ysell hatte ihr altes Leben abgestreift wie verschmutzte Kleidung. Die Familie, die Straßen der Stadt, die Streiche, das alles lag weit hinter ihr und war in der Erinnerung farblos und flach geworden. Selbst die kurzen Gespräche mit Sabé, direkt nach ihrer Verurteilung, waren nichts sagend und allgemein geblieben. Beide hatten gewusst, dass sie von nun an getrennte Wege gehen würden und zumindest Ysell war es recht gewesen. Sabé hatte nicht einsehen können, dass sie bereit war, ihre Strafe zu akzeptieren, aber spätestens, seit sie dem Mädchen das Bein gebrochen hatte, war ihr selbst klar geworden, dass es mit ihr so nicht weitergehen konnte. Alles, was mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte, war gefährlich. Es hätte sie wieder aus der Bahn werfen können, und so hatte sie sich für eine Zeit lang ganz auf das Zwingergelände zurückgezogen. Die abrupte Trennung von allem was ihr bekannt gewesen war und vor allem der Umgang mit Bogan und Läufer hatten ihr Leben vollständig verändert, so daß man mit Recht sagen konnte, der Zwinger habe einen neuen Menschen aus ihr gemacht.

      Zuerst hatte Läufer sie gebraucht, und Nekoi hatte ihr Lesen und Rechnen beigebracht. Dann hatte Ysell nach und nach erkannt, dass Bogan sich auf sie verließ, sie hatte die Anerkennung der gesamten Trossmannschaft gewonnen und schließlich waren Reißer und Dax dazu gekommen, so daß sie jetzt ein Rudel Junghunde zu betreuen hatte. Alle mussten versorgt und ausreichend beachtet werden und zu allem, was sie tat, musste Ysell sich Gedanken machen. Am Abend war sie dann immer so müde, dass sie keinen unnötigen Schritt mehr tun wollte. Selbst in der Nacht hatte sie keine Ruhe vor ihren Junghunden, denn der geistige Kontakt bewirkte, dass sie all ihre wirren Hundeträume miterleben musste.

      So verging mehr als ein Jahr und Ysell war in dieser Zeit nicht öfter als fünfmal in der Stadt gewesen, meistens, um in Bogans Auftrag etwas für den Zwinger zu besorgen. Der Zwinger war ihr Zuhause geworden - ihre Familie, ihre Welt. Ysell hatte Sabé vor über einem Jahr zum letzten Mal gesehen - und sie hatte ihn fast vollständig vergessen.

      „Ysell?“ Auch Ysell hatte Sabé kaum wiedererkannt. Nachdenklich hatte sie gerade vor einer Marktbude mit Schüsseln gestanden, denn im Zwinger wurden ein paar neue Näpfe gebraucht, da hatte ein Schatten sich neben sie geschoben und sie hatte eine Berührung an ihrer Weste gespürt. Gereizt hatte sie sich umgeschaut, denn sie fühlte sich gestört, da hatte sie im Gesicht des Jungen neben ihr etwas Bekanntes entdeckt. „Sabé?“ Ysell konnte es kaum glauben, dass der hochaufgeschossene Junge neben ihr ihr ehemaliger Spießgeselle sein sollte. Sein Körper hatte sich gestreckt und er wirkte fast schon wie ein junger Mann. Gerade noch konnte sie sich ein „Du bist aber gewachsen!“ verkneifen.

      „Du bist aber gewachsen!“, sagte Sabé und schaute seine alte Freundin erstaunt an. Als er sie zuletzt gesehen hatte, war sie noch ein Kind gewesen, aber jetzt ...

      „So? Hatte ich gar nicht gemerkt.“ Fast war Ysell froh, sich ein bisschen über Sabé ärgern zu können, denn sofort als sie ihn erkannte, hatte sich ihr schlechtes Gewissen geregt. Jedes Mal, wenn sie in die Stadt gegangen war, hatte sie sich gedacht, dass es jetzt eigentlich mal an der Zeit sei, Sabé zu suchen und ihm von ihrem neuen Leben zu erzählen - und jedes Mal hatte sie es nicht getan. Sie konnte sich noch nicht einmal einreden, es einfach vergessen zu haben; sie hatte sogar ganz bewusst die Plätze gemieden, an denen sie ihn hätte treffen können. Zuerst hatte sie es für ratsam gehalten, nicht mit Sabé gesehen zu werden, weil sie ja als verurteilte Missetäterin bekannt war. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, dass jemand in ihm doch noch ihren Komplizen erkannte, denn wenn all das aufgeschwommen wäre, was sie zusammen angestellt hatten, dann wäre es auch Sabé schlecht ergangen. Später hatte sie ab und an den Gedanken gehabt, ihn mal wieder zu treffen, doch sie hatte ihr Vorhaben nie verwirklicht. Sabé war für Ysell ein Stück ihrer Kindheit, und sie war so froh, der lieblosen Familie, dem muffigen Haus, dem heruntergekommenen Stadtviertel entkommen zu sein, dass sie ihr neues Leben nicht mit dem Makel alter Erinnerungen hatte beflecken wollen. - Und Sabé gehörte nun mal leider zu ihrer trüben Vergangenheit, so nett er damals auch gewesen war. Trotzdem fand Ysell es nicht richtig von sich, ihn zu meiden und jedes Mal, wenn sie an ihn denken musste, gab ihr Gewissen ihr einen Stich - und jetzt stand er plötzlich vor ihr.

      „Na, haben sie dich endlich laufen lassen?“, wollte Sabé wissen „War es schlimm?“

      Es ärgerte Ysell ein wenig, als sie Sabé so reden hörte, aber er konnte ja von all den aufregenden Erlebnissen, die sie gehabt hatte, nichts wissen. „Ich bin jetzt freiwillig dort“, antwortete sie „Ich bin jetzt Aufspürerin und habe drei eigene Hunde!“ Der Stolz in Ysells Stimme war bei ihrem letzten Satz unüberhörbar.

      „Trosshunde etwa? - Du hast drei Trosshunde?“ Sabé vergaß, den Mund wieder zu schließen.

      „Klar!“ Sabé brauchte ja nicht unbedingt zu wissen, dass es Junghunde, und einer davon fast noch ein Welpe, waren.

      „Richtig ausgewachsene Trosshunde?“ Sabé konnte sich kaum beruhigen „Drei Stück? - Bei allen Göttern!“

      „Komm, lass uns da rüber gehen.“ Ysell tat, als habe sie Sabés erstaunten Ausruf nicht gehört. Sie ging ein Stück die Straße entlang und setzte sich neben dem Badehaus auf ein Mäuerchen, das einen Brunnen umgab. Sabé folgte ihr.

      „Und du? - Was machst du so?“, wollte Ysell nun wissen.

      „Och, nichts Besonderes.“ Sabé hob kurz die Schultern „Mal dies, mal das. - Ich lauf halt so herum.“

      Ysell konnte sich kaum noch vorstellen, wie es war, einfach so herumzulaufen. Eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn. Es passte ihr nicht, dass sich bei Sabé so rein gar nichts geändert hatte. - Dass er immer noch einfach so durch die Stadt lief, wie ein Kind. Sabé war aber kein Kind mehr. Er war fast genauso alt wie sie. „Es geht dir nicht so gut, stimmt’s?“, vermutete Ysell. Ihr war aufgefallen, wie mager Sabé war. „Wovon lebst du?“

      „Och, das findet sich.“ - Wieder dieses „Och“ - Beginn aller Ausflüchte und Lügen der Kindheit. Sabé konnte Ysell bei der Antwort nicht in die Augen sehen, er war schon immer ein schlechter Lügner gewesen. Ysell begann, Schlimmes zu ahnen.

      „He, Sabé!“ Ein dünner Junge in zerlumpten, schmutzigen Kleidern kam in vollem Lauf über den Marktplatz und stoppte kurz vor der Brunnenmauer. „Eisor sucht nach dir!“, keuchte er „Du solltest doch zwei Handmaß nach Hochsonne bei dem Verschlag am Maisfeld sein!“

      „Oh, verdammt!“ Sabé streckte den Arm aus, winkelte die Hand an und maß schnell die Zeit am Himmel ab. „Zweieinhalb nach Hochsonne schon? - Bei allen Göttern, ich muss los!“ Hastig sprang er von den Mauer und wollte sich von Ysell verabschieden „Also dann ...“

      „Was hast du denn mit Eisor zu tun?“ In Ysells Stimme lag eine Schärfe, die Sabé aufhorchen ließ.

      „Geschäfte!“, antwortete er knapp und wichtigtuerisch „Was hast du denn gegen Eisor?“

      „Geschäfte?“ Ysell lachte bitter auf „Seit wann macht einer