Michael Stuhr

DÄMONEN DER STEPPE


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seit Tagen stürzten solch ungeheure Wassermassen auf die Stadt nieder, dass an ein geregeltes Arbeiten nicht mehr zu denken war. Schon lange waren die Bewässerungsgräben übergelaufen, und das Wasser bahnte sich gurgelnd seinen Weg von den Feldern und Plantagen in den Fluss hinab. Die tiefer gelegenen Teile der Stadt waren nun schon kniehoch überflutet, und das Wasser stieg immer noch. Die Erwachsenen waren mürrisch. Sie hatten sich, so gut es ging, in ihre Häuser verkrochen, und nur die Kinder nutzten die ungewohnten Spielmöglichkeiten, die das Wasser ihnen bot, mit Vergnügen.

      Auch das Zwingergelände war nun schon knöcheltief unter Wasser, so daß die täglichen Übungen mit den Tieren ausfallen mussten. Also hatte Bogan seinen Leuten aufgetragen, nur noch die allernotwendigsten Arbeiten durchzuführen. So kam es, dass Ysell nach getaner Arbeit schon recht früh am Tag allein in ihrer Kammer saß. Sie hatte sich umgezogen und sich trockene Sachen herausgesucht. Dabei war ihr das kleine Bündel wieder in die Hände gefallen, das sie schon fast vergessen hatte. - Die „Schätze“, die sie als Kind gesammelt und an einem sicheren Ort verborgen hatte, den nur sie kannte. Bei ihrem Umzug hatte sie die Sachen einfach zusammengerafft und in das Bündel gestopft, das nun offen vor ihr lag.

      Ysell wollte nun kein Kind mehr sein, also stellte sie einen leeren Eimer bereit und fing an zu sortieren. Der getrocknete Frosch hätte ja vielleicht noch einen hübschen Wandschmuck abgegeben, aber nach längerem Überlegen wanderte er dann doch in den Eimer, wo schon der weiße Mäuseschädel und die Sammlung seltener Blätter auf Gesellschaft warteten. Die zerbrochene Kleiderspange konnte man vielleicht noch reparieren; sie würde mal herumfragen, wie man so etwas macht, und auch der Stein, der aussah wie der Kopf eines Tragtieres durfte keinesfalls wegkommen. Jeder Gegenstand, den sie berührte, hatte seine eigene Geschichte, und plötzlich stand Ysell das Bild der Stadt wieder so deutlich vor Augen, als sei sie erst gestern noch ziellos durch die Straßen gestreift. Ysell erinnerte sich an all die Fundorte und ihr war, als erwache die Stadt jenseits der Zwingermauern zu einem seltsam fremden, fast vergessenen, aber doch vertrauten und verlockenden Leben. Sie erinnerte sich an die endlosen, sonnendurchglühten Tage, an denen sie rastlos durch die Außenbezirke der Stadt gesteift war, immer auf der Suche nach einem kleinen Abenteuer. Die kleinen Diebstähle in den Obstgärten kamen ihr wieder in den Sinn, für die sie sich so manche Ohrfeige eingefangen hatte, und die Nachmittage am Ufer des Flüsschens, das die Stadt mit Wasser versorgte. Es schien Ysell fast, als könne sie hier in ihrer Kammer den Geruch der überreifen Früchte auf dem Markt wahrnehmen und sie sah vor ihrem inneren Auge die bunte Kleidung, die die Menschen in der Stadt zu besonderen Anlässen trugen. Ein Gefühl von Wehmut schlich sich in ihre Gedanken. - Sie hatte doch sehr viel aufgeben müssen, und plötzlich wurde es ihr klar, dass sie noch viel mehr verlieren würde. Die Stadt, mit allem was dazu gehörte, würde es in wenigen Jahren nicht mehr für sie geben. Sie würde mit dem Clan in die Steppe ziehen müssen, einem ungewissen Schicksal entgegen. Ysell spürte, wie Angst sich in ihr regte. Niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand war, ging freiwillig in die Steppe, und sie war gerade dabei, ihr ganzes Leben zu verschenken.

      Der Regen prasselte mit unverminderter Heftigkeit auf das Dach, und unter den Bodenbrettern gluckste ab und zu das Wasser. Ysell saß im letzten Licht des Tages auf dem Bett in ihrer Kammer und war in der Sortierarbeit erstarrt. Gedankenverloren saß sie da. Ihre Phantasie machte die Stadt noch schöner als sie in Wirklichkeit je gewesen war, und mit jedem Bild ihrer Erinnerung war ein einziger Name verknüpft: Sabé! - Es wurde nun langsam wirklich Zeit, ihn einmal zu besuchen, fand Ysell.

      Läufer lernte rasch und wurde immer selbständiger. Immer seltener versuchte er sich bettelnd und fiepend bei Féira einzuschmeicheln, so dass sie sich niederlegte und ihn trinken ließ. Dafür wurde er um so rabiater, wenn die Schüssel mit dem Hackfleisch kam, und bald schon reichte nur ein Napf für die sechs Welpen nicht mehr aus. Langsam begann die Welpenpflege richtig Arbeit zu machen. Näpfe mussten geschleppt und gesäubert werden, das Wurmmittel war zu verabreichen, frisches Stroh musste aufgeschüttet werden, und die Welpen mussten lernen, ihre Notdurft nicht mehr im Schuppen zu verrichten. Ysell war von den anderen Arbeiten weitgehend freigestellt, und wenn sie ein Problem mit den Tieren hatte, dann fand sich beim Essen immer jemand, mit dem sie es besprechen konnte. Ab und an kam auch Bogan zu ihr in den Schuppen, aber das war selten. Mittlerweile hatte der Alte die Überzeugung gewonnen, dass Ysell in der Lage war, selbständig zu handeln und nicht mehr der dauernden Aufsicht bedurfte.

      Immer häufiger kamen hingegen die Aufspürer, die einen von Féiras Welpen in ihr Rudel aufnehmen sollten. Sie nahmen erste Kontakte zu ihren Tieren auf und gingen mit ihnen auch schon mal vor den Schuppen, damit die anderen Hunde sie kennen lernten. Nur Läufer bekam keinen Besuch, denn er sollte ja bald Ysells Hund werden.

      Es war ein ständiges Kommen und Gehen und Ysell hatte von morgens bis abends alle Hände voll zu tun. Fast einen Mond lang hatte sie nun schon keinen Fuß mehr vor das Tor des Zwingers gesetzt, dabei war sie ja keineswegs hier gefangen. - Alle guten Vorsätze halfen nichts. Sie kam einfach nicht mehr dazu, in die Stadt zu gehen. Ihr altes Leben begann zu verblassen. Es schien ihr fast, als habe jemand anderes es gelebt, und sie habe nur davon erzählen hören.

      Ysells Liebling war und blieb Läufer. Nahezu täglich gewann der Welpe neue Fähigkeiten hinzu, denn mittlerweile war aus dem tolpatschigen Spiel der kleinen Hunde ein Wettstreit geworden. Es wurde um alles gezankt, was man sich denken konnte. Ob es um das größte Stück Fleisch, ein Büschel Stroh oder die Hoheit über den Wassernapf ging, nie konnten die Welpen sich friedlich einigen und keiner konnte seine Eroberungen ungestört genießen. An jedem alten Lappen zerrten mindestens drei Welpen und ein Liegeplatz an Ysells Seite musste in erbitterten Kämpfen errungen werden. Ysell machte sich Sorgen, dass einer ihrer Schützlinge bei so einer Rangelei verletzt werden könne. Ganz im Gegensatz zu Féira, die sich das Treiben ihrer Sprösslinge ungerührt ansah, war Ysell ständig auf der Hut, denn die Kleinen gingen mit ihren spitzen Milchzähnen aufeinander los und kniffen sich in Ohren, Nasen, Pfoten und Schwänze. So kam zu dem Geknurre, Gekläffe und Gefiepe auch immer wieder die Stimme Ysells, die die kleinen Racker auseinander bringen wollte, und für eine Zeit lang war es recht laut in dem Schuppen am Rande des Zwingers.

      Läufer tat sich bei all diesen Spielen besonders hervor. Wo immer eine Balgerei im Gange war, da war er nicht weit, und immer häufiger setzte er sich gegen seine Geschwister durch. Ysell schimpfte zwar manchmal mit ihm, wenn er es allzu toll trieb, aber insgeheim war sie doch stolz darauf, dass Läufer - ihr Läufer - der Gewitzteste und Stärkste von allen war.

      Da Läufer aber nicht nur Ysells Geschimpfe hörte, sondern auch genau wusste, was sie fühlte, machte er sich nicht allzu viel aus ihren Zurechtweisungen. Nur wenn er spürte, dass er drauf und dran war, sie wirklich böse zu machen, kam er schnell zu ihr und bat demütig um Verzeihung - um gleich darauf mit dem nächsten Blödsinn zu beginnen.

      Féira hatte sich mittlerweile fast ganz von den Welpen zurückgezogen und griff nur noch selten in Ysells Erziehungsmaßnahmen ein. Der Aufspürer, dem Féira zugeteilt war, holte sie immer häufiger tagsüber ab, um sie wieder in sein Rudel einzugliedern. Ysell staunte, wie der Mann und Féira miteinander umgingen. Die Hündin reagierte auf ihn nicht mit dem Gefühlsüberschwang, den einsame Hunde ihrem Herrn gegenüber so oft an den Tag legen, sondern sie begrüßte ihn, wie Ysell ihre Arbeitskameraden begrüßte: freundlich, sachlich und sofort, ohne Umschweife, mit der Arbeit beginnend. In Féiras Fall bedeutete das, dass sie aufstand, den Aufspürer kurz mit der Nase anstupste und an seiner Seite den Schuppen verließ.

      „Féira ist nicht einsam“, hatte der Aufspürer Ysell erklärt. „Sie spürt die Nähe der anderen Hunde, und auf ihre Art redet sie sicher auch mit ihnen. Während sie hier auf ihrem Lager liegt, erlebt sie vielleicht mehr als du, wenn du den ganzen Tag in der Stadt herumläufst.“

      Ysell hatte da leichte Zweifel, außerdem fand sie den Mann nicht sehr sympathisch. Er redete ihr zu klug daher. Um des lieben Friedens willen fragte sie aber nur mit staunendem Gesichtsausdruck: „Wirklich?“

      „Wer weiß?“, meinte der Mann geheimnisvoll und freute sich, dass sein Wissen Ysell so beeindruckte. Dann ging er mit Féira hinaus, um mit ihr ein paar Übungen abzuhalten.

      Je selbständiger die Welpen wurden, desto weniger bedurften sie des schützenden Schuppens. Schon