Michael Stuhr

DÄMONEN DER STEPPE


Скачать книгу

jedem Tag, den Ysell länger im Zwinger arbeitete, trat ihr vorheriges Leben mehr und mehr in den Hintergrund. Bald schon konnte sie sich kaum noch vorstellen, dass sie früher den ganzen Tag lang in der Stadt herumgelaufen war. Die Langeweile, die sie früher zu den wildesten Streichen getrieben hatte, war vollständig verflogen. - Im Gegenteil: Ysell hatte manchmal den Eindruck, die Tage seien kürzer geworden - zu kurz, um all das zu erledigen, was zu tun war.

      Früh am Morgen schon stand sie jeden Tag vor dem Tor des Zwingergeländes und begehrte Einlass. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, kurz bei Féira und ihren Welpen vorbeizuschauen, bevor der reguläre Dienst begann. Bald schon forderten die Trossleute Ysell dann für alle möglichen Arbeiten auf dem Gelände an. So half sie ihnen, Futter und Wasser zu den Gattern der Tragtiere zu schleppen, fasste mit an, wenn es galt, die Gehege zu reinigen und machte sich nützlich, wo immer sie konnte - alles, um zur Hochsonne und am Abend schnell noch ein paar Fingermaß lang mit Läufer spielen zu dürfen. Nach Einbruch der Dunkelheit wankte sie dann todmüde nach Hause und schlief so lange, bis es Zeit war, wieder zum Zwinger zu gehen. Es war kein böser Wille, der Ysell davon abhielt, Sabé zu suchen, und ihm von ihrem neuen Leben zu erzählen - sie hatte einfach keine Zeit.

      Ysell war dabei, die Zaunpfosten eines Gatters dick mit einer übel riechenden, braunen Paste anzustreichen, um sie vor dem ewig schmirgelnden Sand, den der Steppenwind zwischen sie wirbelte, zu schützen. Sie schaute den Zaun entlang, aber die nächsten Trossleute waren über hundert Schrittmaß weit entfernt im nächsten Gehege - keine Chance, sich ein wenig mit ihnen zu unterhalten. Die Gatter waren schon alt und nur der guten Pflege durch Bogan und seine Vorgänger war es zu verdanken, dass überhaupt noch etwas davon vorhanden war. Ein schutzlos dem Wind ausgesetztes Stück Holz hätte dem stetigen Ansturm der dünnen Staubfahnen nicht standhalten können und wäre innerhalb weniger Jahre zu Pulver zerrieben worden. Ysells Arbeit war also wichtig, das wusste sie, aber sie war auch eintönig und lästig. So sehr sie sich auch einzureden versuchte, dass es eine große Ehre sei, den Zaun der Tragtiere vor dem Zerfallen zu bewahren, der Spaß an der Arbeit wollte sich heute einfach nicht einstellen. So verlängerte Ysell ihre Qualen auch noch unnötig, indem sie trödelte. Lustlos tauchte sie den Pinsel in die zähe Pampe und schmierte das Zeug widerwillig und missmutig auf die Pfosten. Obwohl es erst ein Handmaß vor Frühsonne war, taten ihr schon jetzt die Finger und Handgelenke weh.

      Wenn doch bloß irgend etwas passieren würde, das sie von dieser Fron erlöste. - Ein Sandsturm vielleicht, oder ein Wolkenbruch, der das Land überschwemmte - vielleicht sogar ein Steppenbrand, der das Gehege bedrohte. - Das wäre richtige Arbeit! Da könnte man sich bewähren! Sie, Ysell, würde als Einzige dem Sturm trotzen und die Tragtiere ungeachtet der sie umtosenden Sandmassen in Sicherheit bringen. - Oder wenn bei der Überschwemmung alle anderen nur darauf bedacht waren, nicht zu ertrinken, würde sie sich heldenhaft in die Fluten stürzen und die Tiere auf den nächsten Hügel treiben. - Und bei einem Steppenbrand erst! Da würde sie ...

      Ysell war ganz in ihrem Heldentraum gefangen und hörte das Herannahen der zwei kämpfenden Hengste zu spät. Die weichen Fußballen der Tragtiere verursachten kaum ein Geräusch auf dem sandigen Boden der Koppel.

      Plötzlich stürmten zwei große Schatten auf der anderen Seite des Zauns heran und krachten in vollem Lauf gegen die Planken. Das oberste der drei langen Hölzer zerbrach mit einem splitternden Laut und Ysell sprang schnell zurück, um nicht von den herabfallenden Teilen getroffen zu werden. Der Pinsel fiel ihr aus der Hand und der Eimer mit dem Schutzanstrich kippte um, als der schwere Balken auf ihn fiel.

      Die zwei Tragtiere, die in den Zaun hineingerannt waren, wirbelten herum und durchquerten die Koppel abermals in rasendem Galopp. Ysell erkannte Jomo und Arkas, zwei von Nekois Hengsten. Arkas war Jomo dicht auf den Fersen und trieb ihn mit Bissen in die Kruppe und den Höcker vor sich her. Arkas war viel schneller als Jomo und jedes Mal, wenn dieser die Richtung ändern wollte, war er schon neben ihm und trieb ihn weiter auf den gegenüberliegenden Zaun zu. Wieder krachte Jomo gegen die Balken und Arkas drängte mit seinem Körper unbarmherzig nach. Dabei schnappte er nach der Schulter seines Rivalen und riss ihm das Fell auf einer handtellergroßen Fläche aus.

      Blass, die Hände zu Fäusten geballt, stand Ysell dort, wohin der Schreck sie gebannt hatte, und wusste nicht, was sie tun sollte. Es war Paarungszeit, und in allen Gehegen kämpften die Hengste um die Stuten, das wusste sie; aber das hier war kein normaler Kampf mehr. Jomo hatte verloren, er war auf der Flucht, das musste Arkas doch erkennen, aber er ließ Jomo nicht in Ruhe. Immer wieder bedrängte er ihn mit Bissen und presste ihn mit groben Stößen gegen das Gatter. Jomo war vor Angst halb wahnsinnig; offenbar wusste er nicht, was er tun sollte, denn Arkas verstieß gegen alle Regeln. Schließlich machte er sich mit einer verzweifelten Anstrengung wieder von dem Angreifer frei und floh mit schäumendem Maul quer über das Gelände. Ysell erkannte, dass er genau auf die Lücke im Zaun zuhielt, hinter der sie stand. Sie wollte fortlaufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Verzweifelt riss sie die Arme hoch, damit die Tiere sie nicht überrannten. Entsetzt sah sie, wie Jomo zum Sprung über die beiden unteren Querbalken ansetzte, und erst im letzten Moment schaffte sie es, sich zur Seite zu werfen, aber da flogen auch schon zwei riesige Schatten über sie hinweg und der Boden erzitterte unter dem Aufprall zweier schwerer Körper. Jomo war schlecht aufgekommen und gestürzt, und Arkas war voll in ihn hineingerannt. Nun wälzten sich beide Tiere in einem wirbelnden Knäuel aus Zähnen, Beinen und zotteligem, sandfarbenen Fell auf dem Boden.

      Plötzlich war Nekoi da. Ungeachtet der Gefahr rannte die ältere Trossfrau auf die Tiere zu, die sich gerade wieder aufrappelten; in der Hand hielt sie den dünnen Strick mit der Schlinge, das Hauptwerkzeug der Trossleute.

      Ysell richtete sich auf und sah, wie Nekoi versuchte, die Schlinge um beide Vorderbeine von Arkas zu bringen, sie erwischte jedoch nur eines davon und der Hengst riss ihr mit einer unwilligen Bewegung den Strick aus den Händen. Es schien Ysell, als werfe Arkas dem fliehenden Jomo noch einen letzten abfälligen Blick zu, dann setzte er sich wieder in Trab und sprang mit einer hochmütig-eleganten Bewegung in das Gehege zurück. Die Schlinge um sein linkes Vorderbein saß fest und das Seil schrammte mit einem sirrenden Geräusch über das Holz.

      Plötzlich stutzte Arkas. Drei andere Trossleute waren auf der Koppel aufgetaucht und stellten sich ihm im Halbkreis entgegen.

      Ysell konnte erkennen, dass das Geschlecht des Hengstes angeschwollen war. Wütend starrte er die Männer an und scharrte unruhig im Staub.

      „Er will zu den Stuten!“, rief Nekoi aufgeregt den anderen zu. „Bringt ihn zu Fall! Er darf sich nicht paaren!“

      „Aber er hat doch gewonnen“, wandte Ysell halblaut ein. Niemand achtete auf sie. Langsam ging sie zum Zaun, um den Fortgang des Kampfes zu beobachten.

      Arkas hatte keinesfalls die Absicht, sein Recht auf Paarung aufzugeben. Zögernd machte er ein paar Schritte auf die Trossleute zu. Das Seil ringelte sich im Staub wie eine Schlange, die sich in sein Bein verbissen hatte. Nekoi schwang sich eilig durch die Lücke im Gatter - und dann ging plötzlich alles ganz schnell.

      Arkas wandte den Kopf Nekoi zu, die sich ihm von hinten näherte, und wich tänzelnd zur Seite aus. Darauf hatten die anderen Trossleute nur gewartet, zwei Schlingen flogen heran und legten sich um seinen Hals. Arkas schnaubte zornig auf und stieg steil nach oben. Seine Beine wirbelten in wilder Abwehr durch die Luft, da legte sich eine weitere Schlinge um das andere Vorderbein. Nun konnte auch Nekoi ihr Seil wieder aufnehmen und das Schicksal des Hengstes war besiegelt; es dauerte nur noch Augenblicke, bis er mit einem dumpfen Laut zu Boden stürzte.

      „Hol Bogan!“, rief Nekoi Ysell zu „Beeil dich!“

      Wenig später stand Ysell keuchend vor Bogan und berichtete ihm in kurzen Worten, was geschehen war.

      „So, Arkas also.“ Bogan nickte grimmig - „Nun, das haben wir schon lange geahnt.“ Ein böses, kurzes Schnaufen ausstoßend ging er zu einem Wandschrank, dem er eine längliche Metallkassette entnahm. Mit schnellen Bewegungen stellte er den Kasten auf den Tisch, öffnete ihn und überprüfte den Inhalt. Ysell sah ein Messer mit kurzer, nach innen gebogener Klinge und einige Flaschen, die Bogan jetzt anhob, in der Hand wog und kurz schüttelte. Offenbar war er mit dem Ergebnis zufrieden, denn er verschloss den Kasten wieder