Michael Stuhr

DÄMONEN DER STEPPE


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an. „Es geht nicht darum, was du schaffst“, erklärte er ihr mit gefährlich leiser Stimme, und seine wasserhellen Augen waren kalt wie Eis. „Viel wichtiger ist es, was Läufer schafft - und ich glaube, für heute hat er genug von dir. Deine Launen und dein Jähzorn haben dich hierhergebracht, und ich bin trotzdem bereit, es mit dir zu versuchen. - Wenn du durch deine unbeherrschte Art aber den Tieren Schaden zufügst, brauchst du nie wieder herzukommen. Geh jetzt!“

      Ysell tobte innerlich. Die Wut schnürte ihr förmlich die Kehle zu. Wohl an die tausendmal verfluchte sie den Alten hundert Schrittmaß tief unter die Erde, und sie dachte sich allerlei grausame Todesarten für ihn aus. So groß war ihr Zorn, dass ihr die Straßen der Stadt trotz des hellen Sonnenscheins seltsam verdunkelt schienen. Nicht rechts und links schauend bahnte sie sich grimmig einen Weg über den belebten Marktplatz und erst als sie die Stadt hinter sich ließ, wurde es etwas besser. Endlich konnte sie wieder freier atmen.

      Schlimmer noch als der Zorn auf den alten Bogan war aber ihr Ärger über sich selbst. Sie hatte versagt, versagt und noch einmal versagt! Sie hatte sich bei ihrem Streich erwischen lassen - sie hatte dem Mädchen das Bein gebrochen und sie hatte sich heute dem alten Bogan gegenüber aufgeführt wie eine widerspenstige Ziege. Sie hatte sich in allem, was sie tat, so unsagbar dämlich angestellt, dass es ihr die Schamröte ins Gesicht trieb. Dabei hasste sie doch auf der Welt nichts mehr als die Dummheit. Ysell hasste ihre Wutausbrüche, sie hasste ihre Dummheit - ja, sie hasste sich selbst.

      Lange folgte Ysell dem Weg bis weit vor die letzten Häuser der Stadt. Der Wind strich durch die grünen Felder und setzte die Halme des Getreides in wogende Bewegung. Großohrige Mäuse huschten unter den Buschreihen, die die Bewässerungskanäle säumten, hin und her. Ein Vogelpaar spielte am Himmel übermütig Fangen und neugierig schauten Pferde von einer entfernten Koppel aus zu ihr herüber. Ysell sah das alles und sah es doch nicht. Gefangen in ihrem Kerker aus Selbstmitleid war die ganze Welt für sie trübe geworden. Lohnte sich das Leben überhaupt noch?

      Langsam ging Ysell zu der Pferdekoppel hinüber. Die Tiere kamen an das Gatter, aber als sie merkten, daß Ysell keine Leckereien für sie hatte, wandten sie sich wieder ab. Ysell schickte ihnen ein paar halbherzige Flüche hinterher und verkroch sich verbittert in dem Heuhaufen, der außerhalb der Umzäunung für die Tiere bereitlag. Lange lag sie dort, und nur langsam wichen ihr Hass und ihr Ärger einem Gefühl der Enttäuschung und der Trauer.

      Irgendwann hatte Ysell das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Vorsichtig richtete sie sich auf und spähte über den Rand des Heuhaufens hinweg. Eine Gestalt kam den Weg entlang. - Diesen Gang kannte sie doch? - Natürlich, es war Sabé, er musste sie gesucht haben.

      „Hau ab!“, brüllte Ysell aus ihrer Deckung heraus. Sabé blieb stehen und schaute sich verwundert um. Verschwinde!“, schrie sie ihn an, sprang schnell auf und nahm eine drohende Haltung ein. „Hau bloß ab!“ Sabé wich einen Schritt zurück, schüttelte kurz den Kopf und ging dann mit hängenden Schultern zur Stadt zurück. Ysell sah ihrem Freund nach. Es tat ihr Leid, aber er durfte nicht näher kommen - denn er sollte ihre Tränen nicht sehen.

      „Ich werde noch verrückt!“, jammerte die Mutter, und der Vater schlug am Ende seiner Strafpredigt mit der Faust auf den Tisch. - Zu Hause gab es also nicht mehr Ärger als sonst auch, als Ysell am Abend heimkam. Ihr Vater arbeitete den ganzen Tag als Tagelöhner auf den Feldern und war der festen Überzeugung, Kindererziehung sei allein Frauensache. Die Mutter hingegen mochte mit Ysells Angelegenheiten nicht belästigt werden und ließ, gewissermaßen als Ausgleich dafür, ihrer knapp zwölfjährigen Tochter in fast allen Dingen freie Hand. Ansonsten hatte sie genug damit zu tun, den ganzen Tag im Stadtviertel herumzulaufen und mal mit dieser, mal mit jener Gesinnungsgenossin über die anderen Frauen der Nachbarschaft herzuziehen. Die Eltern waren sehr jung gewesen, als Ysell zur Welt gekommen war, und warum sie sich einst ein Kind gewünscht hatten, das hatten sie schon längst vergessen. Die Mutter hatte bei Ysells Geburt sehr gelitten und wäre fast dabei umgekommen, wie sie gern und oft erzählte. Ysell hatte den Eindruck, dass sie ihr insgeheim einen Vorwurf daraus machte, dass sie keine weiteren Kinder mehr bekommen konnte.

      Ysell hatte schon früh die Einsicht gewonnen, dass ihre Eltern es als Belastung empfanden, sich um sie kümmern zu müssen. So war sie aus diesem Klima der Kälte und Gleichgültigkeit geflohen und war ihrer eigenen Wege gegangen. Zusammen mit anderen Kindern hatte sie die Straßen des Stadtviertels unsicher gemacht; aber wenn ihre Spielkameraden nach Hause gerufen wurden, hatte Ysell erst richtig losgelegt. Allein hatte es sich fast noch besser Unfug treiben lassen als in der Gruppe, und Ysell war schlau genug gewesen, sich nicht allzu oft erwischen zu lassen.

      Dennoch war natürlich den Eltern so manche Schandtat ihrer Tochter zu Ohren gekommen, aber da sie in der Nachbarschaft sowieso nicht in hohem Ansehen standen, war ihnen das eigentlich egal gewesen. Viel ärgerlicher fanden sie da schon das gelegentliche Ansteigen der Weinpreise, denn Wein musste in Ysells Elternhaus immer auf dem Tisch stehen - sonst gab es ernsthaft schlechte Laune.

      Immer dreister waren Ysells Streiche geworden, und gleichzeitig hatte sich bei ihr ein Hang zu Tücke und Jähzorn entwickelt. Die anderen Kinder hatten sie wegen ihrer plötzlichen Wutanfälle zu fürchten und zu meiden begonnen, alle - außer Sabé.

      Sabé war so etwas wie der gute Geist in Ysells Leben, wenn sie das auch niemals hätte wahrhaben wollen. In ähnlichen Verhältnissen wie Ysell aufgewachsen, allerdings als Spross einer äußerst kinderreichen Familie, hatte auch er schon früh das Leben auf der Straße dem eigenen Elternhaus vorgezogen. Im Gegensatz zu Ysell war er aber eher in sich gekehrt und fiel durch sein ernstes, nachdenkliches Wesen auf.

      Ysell und Sabé hatten beide mit dem untrüglichen Instinkt des Außenseiters in dem anderen einen Artgenossen erkannt - und wenn sie sich auch nie die Freundschaft versprochen hatten, so waren sie doch seit Jahren nahezu unzertrennlich. Es war eine Gemeinschaft zu gegenseitigem Nutzen, das wussten sie beide. Ysell vermochte es immer wieder, Sabé mit ihren verrückten Einfällen aus seinen selbstquälerischen Stimmungen zu reißen, während er sie davor bewahrte, bei den gemeinsam ausgeführten Streichen allzu weit über das Ziel hinauszuschießen. Ysell kannte kein Maß in diesen Dingen; und ohne den zügelnden Einfluss ihres Freundes hätte es mehr als einmal Verletzte gegeben. Mit Schaudern dachte Ysell daran, was der Richter wohl gesagt hätte, wenn Ysell den Wachen statt Hühnermist glühende Holzkohle in die Helme gefüllt hätte, denn das hatte sie zunächst vorgehabt.

      Es war gut, Sabé zu kennen. Wenn Ysell überhaupt einen Menschen auf der Welt hatte, dem sie vertraute, dann war er es. Dennoch sollte viel Zeit vergehen, bis sie ihn wiedersah, denn Ysells Leben änderte sich nun so dramatisch, wie sie es nie für möglich gehalten hätte.

      Am nächsten Morgen erwachte Ysell mit besserer Laune, und es war, als habe der Schlaf allen Ärger und alle Sorgen von ihr abgewaschen. Sie hatte in der Nacht von Läufer geträumt und noch immer meinte sie, das kuschelige Fell des Welpen unter ihren Händen zu spüren.

      Wie er sich wohl in Wirklichkeit anfühlte? Rasch sprang Ysell aus dem Bett und eilte zum Fenster. Es war erst zwei Fingermaß nach Sonnenaufgang. Schade! - Gerne wäre sie sofort zum Zwinger gelaufen, aber Bogan hatte sie ja erst für viel später bestellt. Zum Glück fiel Ysell dann aber ein, dass sie es mit der Tageszeit nicht so genau nehmen musste. Sie war ja schließlich fast noch ein Kind. Sollte Bogan ärgerlich sein, weil sie zu früh kam, dann konnte sie ja immer noch so tun, als könne sie Hand- und Fingermaß noch nicht so richtig voneinander unterscheiden. Also nahm Ysell sich vor, pünktlich ein Handmaß vor Frühsonne beim Zwinger zu sein, und ihr Glück zu versuchen.

       TROSSHUNDE UND TRAGTIERE

      Bogan war nicht ärgerlich, als Ysell pünktlich zwei Handmaß vor Frühsonne vor dem Tor des Zwingers stand. Im Gegenteil, er freute sich sogar, soweit Ysell das bei dem alten Miesepeter feststellen konnte. - Jedenfalls ließ er sie ein.

      Wenn Ysell jetzt aber erwartet hatte, sofort zu Läufer geführt zu werden und den ganzen Tag lang mit ihm spielen zu dürfen, dann hatte sie sich gründlich geirrt.

      Bogan führte sie vom Tor aus direkt zu einem Schuppen, aus dem ihr ein so schrecklicher