Michael Stuhr

DÄMONEN DER STEPPE


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die am Tisch saßen, nur noch als Schattenbilder vor dem etwas helleren Geviert erkennen.

      „Du bringst deine Mutter noch ins Grab“, stellte der Vater mürrisch fest und sah Ysell böse an. Er hatte von seiner Frau gerade erfahren, was Ysell heute wieder angestellt hatte. „Du wirst unsere Familie noch in Verruf bringen!“

      Mit unbewegtem Gesicht saß Ysell da und erwartete die übliche Strafpredigt. Sie machte sich keine besonderen Sorgen, denn sie hatte desgleichen schon zu oft erlebt. Ihre Eltern regten sich immer wahnsinnig auf, wenn sie bei irgend etwas erwischt worden war, aber sie beruhigten sich auch wieder genauso schnell, wenn Ysell keine Widerworte gab. Neu war an der heutigen Situation nur, dass sie der Obrigkeit aufgefallen und vom Richter verurteilt worden war.

      „Das musste ja mal so kommen“, schwadronierte der Vater weiter „dass meine Tochter zur Verbrecherin wird! - Verhaftet - das hat es in unserer Familie überhaupt noch nie gegeben!“

      Weil du so ein unverschämtes Glück hast! dachte Ysell, denn sie wusste genau, dass der Alte auf seinen Arbeitsstellen mitgehen ließ, was immer er konnte. Sie sagte aber natürlich nichts und ihr Gesicht blieb leer.

      „Verhaftet und verurteilt“, stöhnte die Mutter, legte die Hand an die Stirn und trank gleich darauf in großen Zügen den Becher leer - gleich würde sie ruhiger werden, wusste Ysell, und gleich würde der Vater seinen üblichen Wutanfall bekommen. Ysell machte sich bereit, pflichtschuldig zusammenzuzucken, wenn die Faust auf den Tisch krachte.

      „Verdammt noch mal!“, brüllte der Vater auch schon los und hob die Hand. Der Schlag fiel heute schwächer aus als erwartet - kaum mehr als ein müdes „Pong“ war zu hören - trotzdem ruckte Ysell hoch und sah ihren Vater angstvoll an.

      „Ich habe es dir schon hundertmal gesagt!“, tönte der weiter. „Wenn du dich nicht zusammenreißen kannst, dann brauchst du dich an meinem Tisch auch nicht satt zu essen! Ein solcher Ausrutscher noch - nur ein einziger - und ich jage dich aus dem Haus! - Hast du das jetzt endlich begriffen?“

      Ysell versuchte, schuldbewusst auszusehen und nickte schüchtern. Dabei sah sie sich den Tisch an, von dem sie verstoßen werden sollte. - Ein roh gezimmertes, wackeliges Möbel, das schon solange Ysell denken konnte in Ordnung gebracht werden sollte. Die Tischplatte war glatt und fast sauber, denn der verschüttete Wein und die Reste der kärglichen Speisen wurden täglich mit einem Lappen weggewischt. Was auf dem Tisch stand, war auch nicht sehr verlockend: Ein paar schlecht ausgespülte Becher standen neben Wein- und Wasserkanne und ein Stück altbackenen Brotes wartete auf einem Holzbrett auf seinen Verzehr. - Ysells Abendbrot, auf das sie heute, als Zeichen ihrer Bußfertigkeit, allerdings verzichten würde.

      „Nein, nein, nein.“ Ysells Mutter hatte ihren Weinbecher wieder gefüllt, aber jetzt trank sie nicht mehr so hastig und auch ihre Hände zitterten nicht mehr. „Da tut man alles für das Kind, und dann ...“ Ihre Stimme erstarb in einem Schluchzen.

      „Sie wird’s nicht mehr tun“, brummte der Vater ihr jetzt beruhigend zu. Bei seiner Standpauke hatte er sich vollständig verausgabt und brauchte nun eine Stärkung. Auffordernd hielt er seiner Frau den leeren Becher hin und ließ sich einschenken. „Ich werde noch verrückt“, seufzte die Mutter halbherzig. Ysell war entlassen. Ohne noch ein Wort zu sagen, verzog sie sich unauffällig ins Bett und rollte sich auf ihrem Platz an der Wand zusammen.

      Zwei Handmaß nach Hochsonne war Ysell am folgenden Tag auf dem Platz der Wachen. Mürrisch ließ sie sich von einem feixenden Stadtsoldaten ihr Werkzeug, einen riesengroßen, ausgefransten Besen und eine Holzschaufel, aushändigen und machte sich ans Werk. Tief stieß sie die Schaufel in den ersten, flachen Sandhaufen, der sich an der Treppe zum Haus der Wachen angelagert hatte. Vor Ärger und Anstrengung schnaufend trug sie den Sand dann ein paar Schrittmaß weit zu dem Karren, der später den Abfall vor die Stadt bringen würde. Die Schaufel war zu voll und Ysell verstreute den halben Sand auf dem kurzen Weg. - Jedes Körnchen davon würde sie nachher auffegen müssen. Wütend und verbissen arbeitete sie weiter und tatsächlich waren nach einiger Zeit die größeren Sandhaufen verschwunden. Nun erst ging es wirklich ans Fegen.

      Schon bald, nachdem Ysell zu arbeiten begonnen hatte, waren andere Kinder aufgetaucht, um ihr die Plackerei zu „erleichtern“. Im Wesentlichen sah dieser „Beistand“ so aus, dass sie die arme Fronarbeiterin mit ungelenken Sprüngen umtanzten und sie dabei nach Kräften verhöhnten. Erst ein paar heftige Angriffe mit dem hoch erhobenen Besen konnten die Bande davon überzeugen, dass es Ysell egal war, ob die Wachen sie beobachteten oder nicht. Da war es doch erheblich sicherer, ein wenig Abstand zu wahren und die Schmähungen dafür ein wenig lauter herauszubrüllen.

      „He, Ysell, da liegt noch ein Stäubchen!“, schrie der dumme Eisor quer über den Platz, wobei er höhnisch grinsend in die Ecke bei den Schafställen zeigte. „Mach das weg!“

      Ysell hatte sich inzwischen wieder einigermaßen beruhigt und ignorierte den blöden Tölpel vollständig. Eisor war nur ein knappes Jahr älter als sie, und hatte ihr überhaupt nichts zu sagen. Still und verbissen fegte sie weiter den Hof vor der Wache, so wie der Richter es gefordert hatte.

      „Ysell!“ Eisor gab keine Ruhe. „Hier ist Dreck - mach ihn weg!“ Beifall heischend sah er sich zu den anderen Kindern um, die mit ihm hierher gekommen waren, um sich an Ysells Schmach zu weiden.

      „Hier ist Dreck - mach ihn weg!“, fielen ein paar helle Stimmen ein und wenige Augenblicke später skandierte der ganze Chor den kurzen, einfältigen Vers; dazu schlugen die Kinder im Takt die Hände zusammen.

      Ysell spürte Wut in sich aufsteigen. Ein Kribbeln stieg ihren Rücken hinauf und konzentrierte sich im Nacken, knapp unter dem Haaransatz. Ihr wurde es heiß und ihre Hände krampften sich um den Besenstiel. Ysells Gesicht jedoch zeigte den Ausdruck von Gleichmut und Langeweile. Jedes Anzeichen von Ärger hätte die Bande zu weiteren Gemeinheiten gereizt, das wusste sie. - Und noch eines war sicher - lange würde sie sich das sowieso nicht mehr gefallen lassen!

      Plötzlich stürmte ein kleines Mädchen an Eisor vorbei in den Schafstall und kam sofort mit zwei Händen voll schmierigen Strohs zurück. „Hier ist Dreck - mach ihn weg!“, kreischte es vergnügt und warf die stinkenden Halme mitten auf dem Platz hoch in die Luft.

      Das war zu viel! Vor Wut aufbrüllend schoss Ysell auf das erschreckt zurücktaumelnde Kind zu, holte weit mit dem Besen aus und ließ ihn mit voller Wucht im Halbkreis knapp über das Pflaster zischen. Der Schlag riss dem Mädchen die Beine unter dem Körper weg, so dass es klatschend auf das Steinpflaster schlug.

      Jäh verstummte das Geschrei der anderen Kinder und Ysell blieb ernüchtert stehen. Totenblass vor Schmerz und halb betäubt richtete das Mädchen sich auf und schaute ungläubig auf seinen Unterschenkel, der an einer Stelle leicht abgewinkelt war, wo er niemals hätte abgewinkelt sein dürfen.

      Endlose Augenblicke lang stand Ysell da und schaute auf das Kind hinab, das in stummem Schmerz sein Bein umklammert hielt und mit angstverzerrtem Gesicht zu ihr aufsah. Andere Gesichter tauchten auf. Gesichter von Kindern und Erwachsenen, die sich zu dem Mädchen hinunterbeugten und sich dann und wann Ysell zuwandten. Es war wie ein Alptraum, denn was Ysell in den Gesichtern sah, war reiner Abscheu vor ihr und ihrer Tat. Schuldig! - Das war es, was Ysell in allen Gesichtern las. Jetzt fing das Mädchen an laut zu weinen, und der Ausdruck in den Gesichtern der Menge wandelte sich zu nacktem Hass. Nichts wünschte sich Ysell mehr, als alles ungeschehen zu machen. Hätte sie sich doch nur besser beherrscht! - Schon lange bevor die Wachen kamen, hatte Ysell ihren Wutausbruch zutiefst bereut.

      „Du benimmst dich wie eine Sandviper“, stellte der Richter fest. „So geht das nicht! - Du kannst nicht jeden angreifen, dessen Gesicht dir nicht gefällt.“

      „Aber die anderen ...“, wollte Ysell einwenden.

      „Schweig!“, donnerte da der Richter plötzlich los und Ysell duckte sich vor der Gewalt seiner Stimme. „Du hast ein Kind schwer verletzt! Ein Kind, das viel kleiner ist als du! - Was immer es auch getan hat - dass es jetzt mit gebrochenem Bein daliegt und lange Zeit Schmerzen leiden muss, das hat es nicht verdient!

      „Ich weiß.“ Ysells Stimme war nicht mehr als