Ernst Michael Schwarz

Der Tote im Luisenhain


Скачать книгу

An Hand von Zeugenaussagen, Fingerabdrücken und dem entscheidenden Hinweis vom Wirt der Kneipe, der Angst um seine Lizenz hatte, konnten Sander und seine Kollegen einen dreißigjährigen Hilfsarbeiter festnehmen. Die gerade erst eingeführten Gentests mussten nicht zum Einsatz kommen. Den Täter würde eine Anklage wegen Totschlags erwarten und Karl Sander stand für einen Tag im Mittelpunkt. Er war stolz und zufrieden. Als er gerade sein Fahrrad abstellen wollte, fuhren am Nachbarhaus drei Autos vor und parkten teilweise abenteuerlich auf der Wiese vor dem Haus. Die Autos und die Typen, die da ausstiegen, kannte Sander ganz genau. Sie gehörten zur Sonderkommission oder wie sie auch bei der Kripo abwertend genannt wurden: Mielkes schnelle Eingreiftruppe. Karl Sander wusste, immer wenn die auftauchten, gab es für die Kripo nichts mehr zu tun. Sie kamen bei sicherheitspolitisch bedeutsamen Fällen zum Einsatz, wobei die Stasi entschied, was bedeutsam war.

      Sander wollte auf keinen Fall von den arroganten Typen gesehen werden und versteckte sich grade noch rechtzeitig hinter dem kleinen Spielplatz neben den Häusern. Er hatte Recht, sie ließen keinen mehr ins Haus Nr. 36 oder auch nur in die Nähe.

      Nach einer kurzen Zeit, die Sander wie eine Ewigkeit erschien, kamen erst zwei von den Typen raus, dann der Rest. Jetzt blieb Sander das Herz fast stehen, die Leute, die dort in Handschellen aus dem Haus geführt wurden, kannte er. Es war Familie Viertel, erst Bernd Viertel, dann die junge im dritten Monat schwangere Liesel. Genaueres wusste er auch nicht, aber die Viertels arbeiteten wohl im Funkwerk in der Wendenschloßstraße, im Sicherheitsbereich.

      Ebenso schnell, wie alle gekommen waren, waren sie wieder weg, nur die zerfahrene Wiese vor dem Haus zeugte von dem überfallartigen Besuch. Karl Sander konnte sein Versteck verlassen und verschwand in seiner Wohnung. Jetzt wäre es ein Leichtes gewesen, seinen Vater anzurufen, der als Offizier des MfS sicher etwas herausbekommen konnte. Aber obwohl seine Eltern quasi fast um die Ecke wohnten, gab es außer heimlichen Treffen mit der Mutter schon seit Jahren keinen Kontakt: „eine andere Geschichte“, erklärte er immer auf Nachfragen von Nachbarn oder Kollegen.

      Schon am nächsten Tag wurde die Wohnung leer geräumt, renoviert und nach einer Woche zogen neue Leute ein. Nach ein paar Tagen befragte man auch Karl Sander in der Dienststelle, ob er die Familie kennen würde, und als er nicht ganz wahrheitsgemäß antwortete: außer ab und zu sehen und „Guten Tag“ und „Guten Weg“ – ließ man ihn in Ruhe.

      Allerdings vergaß Karl Sander dieses Erlebnis nie und er vergaß auch den Mann nicht, der ihn befragte, den Leiter der MfS Kreisdienststelle Köpenick, Oberstleutnant Willi Kreibig, der noch kurz vor der Wende zum Oberst befördert wurde. Außerdem war sich Sander sicher, dass es eben Kreibig war, der damals diesen Einsatz der Spezialkommission geleitet hatte. Diese markante und auch Furcht einflößende Person vergaß man nicht.

      4.

      Sander wusste es. Die erste Dienstberatung, bevor die Ermittlungen so richtig Fahrt aufnahmen, war die wichtigste. Deshalb wollte er als Erster im Kommissariat in der Keithstraße sein. Außerdem würde er heute noch in die Gerichtsmedizin der Charité zu Professor Weinert fahren. Wie er den Professor kannte, war die Obduktion schon abgeschlossen und die Ergebnisse lagen vor. Aber auch, wenn er die Ergebnisse sicher bereits auf seinem Computer hatte, bei Mordfällen traf er sich immer direkt mit dem Professor. Es gab da immer noch Beobachtungen und Analysen, die nicht im Bericht standen und die wichtig waren. Da sich beide, der Gerichtsmediziner und der Kommissar, schon seit Jahren gut kannten, gab es keine Befindlichkeiten oder Geheimnisse zwischen ihnen. Mit der Assistentin und Vorort Gerichtsmedizinerin Dr. Marie Dreger, fast gleichaltrig mit Sander, gab es etwas mehr als nur Freundschaft, aber das, so würde Sander sagen, ist wieder eine andere Geschichte.

      Pünktlich sechs Uhr stand der kleine wuselige Oberkommissar Paul Landgraf bei Sander vor der Tür. Er wohnte fast in der Nachbarschaft, auch wie Sander in Köpenick, in der Siedlung Kämmerheide. Sie hatten vereinbart, dass Landgraf seinen Chef abholen würde. Heute musste es etwas schneller gehen. Er würde sich auch als erstes in der Keithstraße einen Dienstwagen nehmen und für die Zeit der Ermittlungen behalten. Paul Landgraf war der bodenständigste in Sanders Team, Familie, zwei Kinder und Haus. Da gab es dann noch Susi Weiß, die jüngste. Aber mit ihren 29 Jahren war sie schon erfahrener als alle anderen zusammen. Man würde der kleinen zierlichen blonden Frau nie zutrauen, dass sie schon zwei Jahre Kosovo als Ausbilderin hinter sich gehabt hatte. Über das dort Erlebte sprach sie nur selten. Der dritte im Bunde der Tatortermittler war Oberkommissar Tarek Uri - ein Urberliner, dessen Eltern Ende der sechziger Jahre als Christen in Marokko Repressalien ausgesetzt waren und deshalb das Land verlassen mussten. Tarek erfüllte das Klischee „Araber“. Fast zwei Meter groß, dunkelhaarig, braune Augen, Bart. Nur das kleine goldene Kreuz, das er immer um den Hals trug, irritierte seine vermeintlichen „Landsleute“ etwas. Tarek war Katholik, mit Leib und Seele. Mit der zweiten Hauptkommissarin war das Team genau zum richtigen Zeitpunkt wieder komplett. Kriminalrat Winter wollte vor einiger Zeit Sanders Meinung wissen, ob Frau Fuchs etwas fürs LKA Berlin wäre. Sander entschied sich sofort, die freie Stelle in seinem Team mit ihr zu besetzen. Sie wollte auf eigenen Wunsch möglichst weit weg aus Nürnberg, nachdem in ihrer Dienststelle einiges schief gelaufen war. In Nürnberg war sie bei der SOKO, hatte sich mit deren Chef auf eine Affäre eingelassen, die ging schief und so landete sie seit gestern hier. Schließlich gab es da noch zwei richtig wichtige und urige Typen im Team. Sander musste lächeln, wenn er an die beiden dachte. Neben ihm fluchte sich Paul Landgraf durch den Berufsverkehr.

      Jetzt würden sie gleich von Renate Klein, Sanders Sekretärin, begrüßt werden. Renate - freundliche Kollegen bezeichnen sie als vollschlank und impulsiv. Andere, wenig respektierlich, als fette Cholerikerin. In Wirklichkeit war sie eine liebe, leicht verletzliche, sehr fleißige Person, die für ihren Chef und das Team durchs Feuer ging. Sie wachte mit Argusaugen, dass niemand ihrem Chef zu nahe kam. Sie war eine Löwin, die die Herde zusammenhielt. Mit nur einer Schwäche- Schokolade. Für eine Tafel, oder gar eine Schachtel Pralinen bekam man von ihr fast alles. Sander schätzte sie über alles und hielt alle Angriffe von ihr fern. Alles was bei Sander auf den Tisch kam war aufbereitet, sortiert und auch mit Renates persönlicher Meinung versehen. Sie war eher eine Assistentin, als eine Sekretärin.

      „Paul, ich unterbreche nur ungern deine Kommunikation mit dem Berufsverkehr. Denkst du aber bitte dran, dass ich zur Dienstberatung unbedingt auch Max dabei haben will.“ Paul Landgraf nickte nur kurz, grinste und fragte: „Mit Pizza …oder ohne?“

      Max, eigentlich Maximilian Hof, freier Mitarbeiter im LKA, wobei er das „frei“ sehr wörtlich nahm. Er war Computer- und Nachrichtenspezialist. Das Wort „Problem“ gab es bei ihm nicht. Nur eine Leidenschaft, außer Computer – Pizza mit Thunfisch, früh, mittags, abends und nachts.

      Im LKA wurde viel gelästert, Sander, der Übervater und Renate Klein, die Glucke. Wenn Sander das hörte, konnte er sehr wütend werden.

      Sander und Paul Landgraf waren überzeugt, zu der extrem frühe Stunde die Ersten zu sein. Weit gefehlt, da waren schon Britta und Tarek. Offensichtlich bemühten sich beide, den Computer auf Brittas Schreibtisch zum Laufen zu bringen. Tarek tauchte unter dem Tisch auf und bemerkte nur: „Jetzt sollte es klappen. Das Lan-Kabel sitzt.“ Sander war erstaunt: „Habt Ihr hier übernachtet?“ Britta sprang auf, um die Beiden zu begrüßen: „Nein, wir haben uns nur vor einer Stunde hier getroffen, um schnell alles vor der Dienstberatung einzurichten.“ Jetzt kam auch Tarek vor: „Renate ist auch schon da und hat einiges auf dem Schreibtisch. Die Spusi und Gerichtsmedizin haben wohl die Nacht durchgemacht.“ Wie auf Kommando kam Renate mit einem riesigen Tablett voll dampfender Kaffeetassen. „Morchen, hier Doping. Mit der neuen Kollegin, Tschuldigung - kleinen Chefin, hast Du ja mal richtig Geschmack bewiesen, Karl.“ Dabei zwinkerte sie Britta zu. Karl war zufrieden, das war also auch kein Problem mehr.

      „ So, genug Teambildung, bereitet Euch auf die Dienstberatung vor, alles was wir bis jetzt haben auf den Tisch. Ich war gestern Abend noch bei Peter im Anker und habe mich umgehört, nichts, leider.“ Alle mussten grinsen. Nur Susi Weiß sah Sander ernst an: „Dann warst Du ja nur einhundert Meter vom Tatort entfernt. Auch noch zur Tatzeit?“ Sander nickte ihr zu. „Susi, Du fährst gleich nach der Beratung raus nach Köpenick und siehst Dich um. Wer verhält sich auffällig am Tatort