Mo. Moser

Schattenkind


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      1. Jim und Henry

      Sommer, 1973.

      Es war ein seltsamer Nachmittag, als Jim von der Schule nachhause lief. Die Sommerferien lagen vor ihm und ihn durchströmte ein ungeheueres Gefühl von Freiheit. Unendliche Weiten, wie in Raumschiff Enterprise. Die einzige Serie, die er begeistert verfolgte. Wobei man sagen muss, dass auch sonst nicht viel Besonderes lief. Die Programmauswahl war zu seiner Zeit noch sehr überschaubar und das Meiste, für Kinder ziemlich langweilig. Der Flower Power, das Feeling der USA Hippies, schien gerade langsam über den großen Teich zu schwappen, wovon er aber nichts wusste, und dennoch spürte er eine Stimmung, die in ihrer Lebendigkeit in aufregender Weise von ihm Besitz ergriff. Wie ein kollektiver Geist voll menschlicher Wärme und losgelöster Anarchie, die sich über alle eingestaubten Regeln hinwegsetzt. Ein Geist, der nicht fassbar, aber spürbar war und alles durchdrang. Jim hatte ein Gefühl, als bräuchte er nur noch die Arme ausbreiten, um auf dem Wind zu fliegen und wie ein Adler über alle Grenzen hinweg zu segeln. Unendliche Weiten. Ja, - das war`s.

      Er lief an der kleinen Häuser Siedlung vorbei, die der lang gezogenen, etwas bergauf liegenden Nebenstraße nach dem Dorf mit seiner Schule folgte, als jemand seinen Namen rief. „Hey Jim, du alte Schlafmütze, wieso warst`n nicht beim Bus?“ Henry, Jims bester Freund, kam an den Gartenzaun gerannt und trug immer noch sein typisches „ich bin ja so brav Hemd“, samt brauner Kordhose mit passender Bügelfalte, das er stets in der Schule trug. Er hatte wie so oft, einen leicht sorgenvollen Blick, der alles viel zu ernst nahm und den er irgendwie von seiner Mutter geerbt hatte. Auch wenn Henry nichts dafür konnte, manchmal nervte es Jim. „Musste nachsitzen“, grinste Jim und fuhr sich durch seine braunen, halblangen Wuschelhaare, die, dafür das sie immer so aussahen, als wäre er gerade aufgestanden, ihm unglaublich gut standen. „Wie hast´n das geschafft?“ Fragte Henry und rutschte sich seine Brille zurecht. Eine Angewohnheit, die Henry auf Jim wirken ließ, als wäre er ein Arzt, der seinem Patienten seine Diagnose mitteilt. War Henry mit seinen dreizehn Jahren auch ein Jahr jünger wie er, wirkte er in manchen Momenten auf ihn wie siebzig. Dazu kamen noch seine akkurat geschnittenen, kurzen, schwarzen Haare, die so wirkten, als würden sie nie wachsen, weil seine Mutter ihn alle zwei Wochen zum Friseur schleppte und sein schmal geschnittenes Gesicht. Ein weißer Arztkittel, und das Bild wäre perfekt. „Wollte der alten Schobert noch einen Abschiedsgruß hinterlassen“, sagte Jim und grinste noch breiter. „Schöner fetter Kaugummi, gut anvisierte Schleuder und freie Schussbahn, aber ich fürchte, der Schuss war wohl doch etwas zu kräftig. Jedenfalls fasste sich die blöde Tante in ihre fetten Lockenhaare und obwohl ich meine Schleuder sofort weggepackt hab, kam sie trotzdem auf mich. Weiß auch nicht warum“, endete Jim und seine leuchtenden, blauen Augen sprachen Bände. Henry kratzte sich nachdenklich am Kopf und bedachte Jim mit einem vorwurfsvollen Blick. „Na, bessere Noten kriegst du damit aber nicht“, sagte er in einen fast schon strengen, tadelnden Ton. Jim verbesserte sich in Gedanken. Oberarzt, - neunzig! Er schüttelte den Kopf. „Ist mir doch egal. Das einzige blöde ist, das sie mir die Schleuder weggenommen hat.“ Jim schien sich kurz zu ärgern, doch dann musste er lachen. „Aber dafür hat sie mit dem Kaugummi gekämpft und ihre ganze Frisur zerzaust, aber raus bekommen hat sie ihn nicht. Und bessere Noten krieg ich von der sowieso nicht, selbst wenn du meine Arbeiten schreibst. Die konnte mich von Anfang an nicht leiden.“ Jim musste zwangsläufig an ihren entsetzten Blick denken, als sie ihn das erste Mal sah. Wie sie ihn regelrecht abmusterte, als wäre er ein kaum zu ertragender Schandfleck, in ihrem sauberen Klassenzimmer. Ein Bazillus, der sich eingeschlichen hatte, um ihre saubere Welt zu vergiften und den sie die nächsten drei Jahre zu ertragen hatte. Jim riss sich aus seinen Gedanken und wandte sich wieder an Henry. „Was soll’s. Scheiß auf die Schule jetzt sind Ferien.“ „Ja, bestätigte Henry und schnaufte tief durch, bevor er hinzufügte: Gott sei`s gedankt.“ Jim verbesserte sich erneut; hundert! „Ich hab gehört, heut soll`n richtiger Sturm kommen. Was hältst du davon, wenn du bei mir übernachtest?“ Jim hatte schon wieder so ein aufregendes Funkeln in den Augen. Eines, das Henry gar nicht gefiel, weil er es nur allzu gut kannte und es bedeutete für ihn in der Regel nur eins: Schwierigkeiten. „Ich meine, fuhr Jim fort, bei mir unterm Dach, können wir`s so richtig krachen hören wenn’s donnert. Ich sag dir, das wird der Oberhammer. Vielleicht haut`s sogar ein paar Ziegeln runter.“ Jims größter Wunsch war eigentlich, dass es sein Haus komplett wegfegt, damit sie endlich in ein neues ziehen. Ein schönes, so wie Henrys. „Also ich weiß nicht“, sagte Henry zögernd, dem die Sicherheit seines Zimmers in Erwartung eines großen Sturms zehnmal lieber war, als Jims altes Dachzimmer. „Na, dann frag mal deine Mama, vielleicht weiß die`s ja“, erwiderte Jim genervt. „Also gut“, gab Henry nach, der nicht wusste, wie er aus dieser Nummer wieder herauskommen soll. „Ich komm gleich wieder und sag dir bescheid.“ Jim schüttelte den Kopf. Jetzt fragt der doch echt seine Mutter um Erlaubnis, dachte er sich, während er Henry ins Haus laufen sah. Vorbei an dem gepflegten Rasen mit den kleinen Gartenzwergen, den hübsch verzierten kleinen Fenstern, mit den gepflegten Blumenkästen davor, durch die bunt verglaste Eingangstür, mit ihrem vergoldeten Griff und hinein in den sauber tapezierten Flur. Manchmal fragte sich Jim ernsthaft, weshalb er schon so lange mit Henry befreundet war. Sie waren so vollkommen anders, so unterschiedlich wie Tag und Nacht und dennoch, irgendwie mochten sie sich von Anfang an. Im Gegensatz zu Henrys zierlicher, beinahe femininer Figur, bei der man Angst haben musste, das ihn der Wind wegweht, wenn er zu stark bläst und man ihn vorher nicht festgebunden hat, wirkte Jim so durchtrainiert wie ein ausgebildeter Zehnkämpfer. Verglichen mit Jims klaren, blauen Augen, die aussahen, als hätten sie das Leben des Sommers eingefangen, wirkten Henrys haselnussbraune Augen, wie die eines Eichhörnchens auf ständiger Fluchtbereitschaft. Selbst in der Kleidung, konnten sie sich kaum mehr unterscheiden. Während Jim immer so aussah, als käme er gerade von einen Rockkonzert, wirkte es bei Henry so, als käme er direkt aus der Oper. Andererseits; wenn Henry sich genauso kleiden würde wie Jim, sähe es bei ihm wahrscheinlich lächerlich aus, während es bei Jim… heute würde man sagen, einfach cool aussah. Jim war einfach ein Rebell. Selbst im Gewand eines Messdieners, wäre einem das sofort aufgefallen. Er hatte etwas in den Augen das…

      Jim erinnerte sich noch gut daran, wie Henry in der Schule Schwierigkeiten hatte, mit so `nem Typen Namens Leo. Mann, dachte er sich, das war noch in der Grundschule. Leo war neu. Typischer Angebertyp. Wollte sich aufspielen, indem er sich den Schüchternsten schnappt und fertig macht. Schupste ihn aus irgend so `nen blöden Grund auf den Boden und Henrys Brille schlitterte über den halben Pausenhof. Er konnte es jetzt noch vor sich sehen, wie Leo langsam hinläuft und genüsslich seinen Fuß auf Henrys Brille stellt. „Sag es. Sag, Leo ist der König der Schule.“ Wie er seinen Fuß mehr Gewicht verleit, so dass schon der raue Sand unter Henrys Brille knirscht. „Sag es, du Flasche. Leo ist der König der Schule!“ Jim musste breit grinsen, bei der Erinnerung, wie er ihm auf die Schulter tippt, ihm, als er sich herum dreht seine Faust ins Gesicht schmettert, so dass er mit blutender Nase zu Boden geht und wie er ihm erklärt das es nur einen König an dieser Schule gibt und das der Thron schon besetzt sei. Ach, dachte sich Jim, das waren noch Zeiten. Henry bewunderte ihn dafür und Jim wusste das. Weil er eine Härte hatte, die ihm fehlte und das gefiel Jim. Gleichzeitig war Henry nie unterwürfig, oder demütig vor Jim kriechend, sondern eher... gerissen. Ja, das war das richtige Wort. Ein Angsthase, sicher, aber einer der das Dynamit unter deinem Stuhl versteckt und dich unschuldig anlächelt, während die Lunte bereits brennt. Er war eigentlich das ideale Opfer. Der kleine, schmächtige Intellektuelle mit Brille, aber nur, wenn man ihn nicht kannte. „Ok“, sagte Henry, als er wieder zurückgelaufen kam. „Aber erst nach dem Abendessen.“ Jim musste wieder grinsen. Na das war ja klar. Mamilein hat bedenken. Er konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie Henrys Mutter in ihrer Blümchenschürze und mit ihren perfekt toupierten Haaren, ihm früh seine Haferflocken anröstet, bevor sie, sie mit Zucker kandiert und mit Milch serviert. Wie sie befürchtet, er könnte jemals etwas bei den „Bauers“ zu sich nehmen. Die mit dem alten Haus, mit dem alten Auto und mit dem verschimmelten Brot, wobei er das letztere ihrer Fantasie zuschrieb. „Dann bis heute Abend“, sagte er kurz gebunden aber nicht unfreundlich, sondern eher in froher Erwartung und lief nachhause. Er warf einen freudigen Blick auf die aufkommenden Wolken am Horizont, dachte an Blumenkästen und Gartenzwerge, die ein Tornado mit sich in den Himmel riss und an Henrys Mutter, wie sie kreischend hinterher flog und mit ihrer Blümchenschürze in der Dunkelheit verschwand. Captain Kirk! Unbekanntes Flugobjekt gesichtet. Jim grinste noch breiter. Voller Beschuss.

      2. Der Sturm.