Monika Kunze

Stille(r)s Schicksal


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konnte sie schmerzhaft spüren, die Verachtung, mit der ihn der andere musterte. Was hätte er auch anderes erwarten können? War er nicht ein Monster, das sein eigenes Kind misshandelt und schließlich verhungern und verdursten lassen hatte? Jedes Mal, wenn der Staatsanwalt, der Richter oder auch sein Verteidiger den Namen seiner kleinen Tochter erwähnte, sah er Lauras kleinen Körper vor sich. Es war eine grauenvolle Vorstellung, für ihren Tod verantwortlich zu sein …

      Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er es bis heute nicht gewagt hatte, den Mann anzusehen, der in der letzten Reihe saß, ganz außen, gleich neben der Flügeltür. .

      Heute jedoch, am Tag der Urteilsverkündung, wollte er versuchen, Angst und Scham zu überwinden. Einmal nur wollte er ihm in die Augen schauen. Er musste sich zwingen, seinen Blick zu heben, und als es ihm endlich gelang, sah er etwas, was er bei diesem Menschen niemals für möglich gehalten hatte.

      Neben der Verachtung war in den Augen des alten Mannes für einen Moment auch noch etwas anderes aufgeblitzt: ein Fünkchen Liebe und das Bekenntnis von eigener Mitschuld.

      Überwältigt von dieser Entdeckung senkte der Angeklagte sofort den Blick und schloss die Augen. Niemand sollte ihm mehr in die Seele schauen können.

      Als der Vorsitzende Richter mit monotoner Stimme das Urteil und dessen Begründung verlas, herrschte zunächst eine gespenstische Stille, doch am Ende erhob sich ein empörtes Raunen.

      Im Gesicht des Angeklagten und nunmehr Verurteilten regte sich kein einziger Muskel. Man konnte meinen, dass ihm all das Gehörte völlig egal sei und er absolut keine Reue empfände.

      Doch verhielt es sich tatsächlich so?

      Er hatte unter den Zuschauern auch Leute entdeckt, die ihn von früher kannten. Sie hielten ihn vielleicht auch jetzt noch nicht für ein Monster.

      Und dann hatte es ja noch einen Menschen gegeben, der wusste noch besser als jeder andere, wie liebevoll er sein konnte. Doch diesen Menschen gab es nicht mehr. Er hatte Anne, seine Frau, an den Krebs verloren.

      Seitdem war er nicht mehr er selbst. Ihm kam es vor, als hätte jemand einen Schalter in seinem Inneren umgelegt. Sobald er das Wort Liebe auch nur von weitem hörte, ergriff er die Flucht.

      Liebe? Was sollte das sein? Er konnte sich nicht erinnern. Er spürte es mehr als dass er es wusste: Liebe würde er fortan weder empfangen noch geben können, nicht einmal seiner kleinen Tochter. War es nicht vielmehr so, dass er im Grunde nichts sehnlicher herbeiwünschte als seinen eigenen Tod? Warum also sollte ihn diese Urteilsverkündung noch interessieren?

      Der Mann mit der Todessehnsucht hieß Sven Stiller, war gerade im Namen des Volkes wegen fahrlässiger Tötung seiner Tochter Laura zu dreieinhalb Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden.

      Der alte Mann, der den Platz in der hintersten Reihe rechts außen gewählt hatte, damit er den Gerichtssaal schnell und ohne Aufsehen verlassen konnte, falls ihm übel werden sollte, hieß Helmut Stiller und war der Vater des jungen Mannes und der Schwiegervater von dessen Ehefrau Anne Hellwig.

      Zwei Jahre zuvor: Vorfreude - leicht getrübt

      An einem Freitag im noch frostigen April kam Anne Hellwig wieder einmal recht spät zu ihrem Feierabend. Ihr war klar, dass der Leerlauf an Manuskripten und die Überstunden wie so oft auch heute vermeidbar gewesen wären.

      "Macht nichts", murmelte sie, mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr, „morgen packe ich meine Reisetasche und übermorgen bin ich um diese Zeit schon auf der Insel."

      Der Gedanke an Teneriffa zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie bemerkte nicht einmal, dass draußen vor dem Fenster, schon wieder Schneeflocken tanzten, obwohl es doch laut Kalender schon längst Frühling sein sollte.

      Sie schaute auf den Bildschirm. Die Rechtschreibprüfung huschte über ihren letzten Text für heute, der Cursor blieb stehen und blinkte bei Tippfehlern. Während sie auf die erforderlichen Tasten drückte, registrierte sie mechanisch, dass wieder drei ihrer Fingernägel abgebrochen waren. Das passierte ihr in jüngster Zeit häufig. Doch im Vergleich zu ihren anderen Problemen waren das natürlich Peanuts. Manchmal drohte ein fürchterlicher Schmerz sie fast zu zerreißen. Doch wen ging das etwas an?

      Vor einer halben Stunde hatte sie schon ihre Abenddosis an Schmerztabletten eingeworfen und konnte sich nun unbekümmert freuen: Auf den Feierabend, auf den Urlaub, aber zuallererst auf eine heiße Dusche daheim. Sie würde sie ebenso genießen wie die anschließende Körperpflege. Ja, auch ihre ramponierten Fingernägel würde sie sich vornehmen. Alles ganz gemächlich und ohne Stress. Schließlich lebte sie seit einiger Zeit wieder allein in ihrer Wohnung. Es gab also niemanden, dem sie hätte Rechenschaft ablegen müssen über ihr Tun und die Zeit, die sie dafür aufbrachte. An solchen Tagen bereute sie es nicht, sich schließlich doch, nach vielem Hin und Her, für dieses Singledasein entschieden zu haben.

      Der Cursor blieb mit einem Ruck stehen. Die Rechtschreibprüfung war zu Ende. Schnell sicherte sie den Text, schaute auf die gelben Rechtecke, die nun in schnellem Wechsel auf dem Bildschirm erschienen. Dann leuchtete das Wort Exit in der untersten Zeile auf, mit Schwung klickte auf diesen Button.

      Endlich, dachte sie, endlich Urlaub, jetzt heißt es auch für mich erst einmal Ausstieg ... Exit ... für ein paar Wochen ... aus der Arbeit und aus dem Alltag.

      Ganz flüchtig nur streifte sie der Gedanke, dass dieses Wort Exit, nur durch das Anfügen von zwei weiteren Buchstaben, einen anderen Sinn bekam. Schon die Vorstellung, es seien noch ein U und ein S angefügt, ließ sie frösteln.

      Schnell verbannte sie das Wort Exitus aus ihren Gedanken. Sie wollte jetzt weder an die Vermutung denken, die ihre Ärztin unlängst geäußert hatte noch an den Verkehrsunfall ihrer Eltern, bei dem beide ums Leben gekommen waren. Schnell schob sie die aufkommende Traurigkeit beiseite, denn Selbstmitleid wollte sie nicht zulassen.

      "Dieter, denkst du daran, dass du mich am Sonntag früh zum Flughafen fahren wolltest?" rief sie dem Fotografen durch die offene Tür zu. Er war gerade dabei, die letzten Fotos für die morgige Ausgabe zu bearbeiten. Darunter auch das Wrack eines Autos nach einem Unfall, der heute morgen passiert war.

      Solche Fotos ließen ihn auch nach Jahrzehnten, die er nun schon für die Presse arbeitete, nicht kalt. Er wusste aus dem Polizeibericht, dass die junge Fahrerin noch am Unfallort ihren tödlichen Verletzungen erlegen war. Erst, als das Foto auf dem Bildschirm sichtbar wurde, bemerkte er, dass er vergessen hatte, das Nummernschild an dem Unfallfahrzeug unkenntlich zu machen. Schnell brachte er das Versäumte in Ordnung und nahm sich das nächste Foto vor. Anne brauchte solche zerknautschten Autos gar nicht erst zu sehen. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie bei solchen Bildern immer noch in Panik geriet, auch wenn sie äußerlich ganz ruhig wirkte.

      Als er mit seinem Drehstuhl in Annes Richtung schwenkte, brummte er in seinen Dreitagebart: "Na klar denke ich daran, habe ich denn schon jemals etwas vergessen?" Seine Antwort klang schroff. Aber Anne kannte ihn ebenso gut, wie er sie, um sich etwas daraus zu machen. Seine Schroffheit war meistens nur gespielt. Auch diesmal bestätigte er ihre Vermutung, als er betont wehmütig weitersprach..

      "Ach, Anne, am liebsten würde ich ja mitkommen ... Mir täte etwas Insel bestimmt auch ganz gut. War ziemlicher Stress in den letzten Monaten, was?"

      Er schickte seiner Frage noch einen tiefen Seufzer hinterher.

      Anne beugte sich ein wenig vor und konnte über seinen gequälten Gesichtsausdruck nur lachen.

      "Stress in gewissem Maße soll doch sogar sehr gesund sein, das weißt du doch. Aber du weißt doch hoffentlich auch, dass du ganz bestimmt nicht mit mir auf eine Insel willst. Oder?"

      Als die Frage heraus war, bereute sie diese auch schon. Musste sie sich so albern aufführen? Mit Dieter verband sie seit Jahren eine aufrichtige Freundschaft. Sonst nichts. Womöglich würde er noch glauben, dass sie mit ihm flirten wolle? Deshalb fügte sie schnell hinzu : "Also, ich verlasse mich darauf, dass du am Sonntag in aller Herrgottsfrühe auf der Matte stehst - tschüs, bis denne!"