Monika Kunze

Stille(r)s Schicksal


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den Süden, nach Teneriffa, zu fliegen. Darüber kam er einfach nicht hinweg.

      Er selbst war allerdings tatsächlich auch schon mal im Ausland, damals, im Krieg und danach in Gefangenschaft, in Italien. Da hatte seine Alte schon irgendwie recht. Wenn das alles auch schon sehr, sehr lange her war, Franz Neumaier erinnerte sich genau an jede Einzelheit.

      Und so begann der alte Mann seiner Frau wieder einmal von damals zu erzählen. Wie er mit einem Lastkraftwagen durch ganz Italien gebraust war. Dass er in Rom und Neapel gewesen sei, dass er bis nach Brindisi ("das ist am Hacken vom italienischen Stiefel, weißt du?") gefahren war, um Mehl zu holen, damit wieder Brot für die Gefangenen gebacken werden konnte. Selbstverständlich vergaß er auch nicht Venedig zu erwähnen.

      "Also, Frieda, das musst du dir ungefähr so wie im Spreewald vorstellen, nur eben ohne Wald, alles wurde mit dem Kahn transportiert, naja, richtig heißt das ja dort wohl Gondel."

      Aber Frieda hatte nur einen müden Blick für ihren Franz übrig, schnell hingeworfen über die Brille, die ihr beim Stricken bis auf die Nasenspitze gerutscht war.

      Und ein ausgiebiges Gähnen, das sie auch keineswegs zu unterdrücken versuchte. Ach, sie kannte ja seine italienischen Geschichten schon alle. Nur hin und wieder ließ sie sich zu einem einsilbigen mhm hinreißen, nickte mechanisch zu seinen Worten.

      Auch Franz wusste natürlich, dass sie nur so tat, als würde es sie brennend interessieren, was er erzählte. Er sah sehr wohl, dass sie ihre ganze Aufmerksamkeit schnell wieder ausschließlich ihrer Strickerei zugewandt hatte.

      Als sie doch noch einmal hochschaute, bemerkte sie, dass die Übergardinen in der Mitte noch immer nicht richtig geschlossen waren. Sie stand unvermutet schnell auf, obwohl ihre Knie knackten und furchtbar wehtaten, und behob den Schaden, noch ehe Franz womöglich etwas bemerken konnte.

      Nun hatte niemand mehr auch nur den kleinsten Einblick in ihr Zimmer.

      "Frahanz?!"

      "Ja doch, was ist denn?" fuhr er auf. Er war wohl über seiner Zeitung kurz eingenickt?

      "Franz, es wäre wirklich schön, wenn du dich morgen mal um das Telefon kümmern könntest, es ist nun schon seit drei Tagen gestört..."

      "Na, und, macht doch nichts", entgegnete er noch immer etwas schlaftrunken, da haben wir wenigstens unsere Ruhe ... oder erwartest du irgendwelche dringenden Anrufe?"

      So sehr sich die alte Frieda auch sonst immer gegen jeden neumodischen Kram sträubte, das Telefon fehlte ihr doch, denn sie hatte schon seit ein paar Tagen nichts mehr von ihrer Tochter Margot gehört. Vor allem hätte sie ja auch zu gern gewusst, ob nun ihr Enkel Sven sein kleines Häuschen in Wiesenberg endlich weiter ausbauen würde oder nicht.

      Das gestörte Telefon war schließlich auch der Grund, dass Neumaiers nicht ahnen konnten, dass sich auch ihr Enkel Sven am Sonntag so mir nichts dir nichts in ein Flugzeug setzen würde, um weit weg Urlaub zu machen. Auf Teneriffa.

      Annes Träume

      "Was nehme ich nur mit?" überlegte Anne laut, denn sie hatte mal irgendwo gelesen, dass Selbstgespräche absolut kein Zeichen von Verrücktheit seien. Außerdem fühlte sie sich in ihren vier Wänden weder beobachtet noch belauscht. Die Zeiten waren ja zum Glück vorbei.

      Momentan sah es ziemlich wüst bei ihr aus. Sie hatte alle Sachen, die sie eventuell mitnehmen wollte, auf der Couch, den Sesseln, dem Tisch und sogar auf dem Fußboden ausgebreitet. In der Küche fiepte der Wasserkocher, ein Zeichen, dass sie ihren Tee aufbrühen konnte. Noch während sie das heiße Wasser in die überdimensionale Tasse mit dem Tee-Ei fließen ließ, klingelte das Telefon.

      Sie stellte den Kocher wieder auf den Untersatz, ging in den Flur und nahm den Hörer aus der Station.

      "Was ist, warum nimmst du ewig nicht ab?"

      Es war Henri. Er wirkte ziemlich ungehalten. Was wollte der denn noch? Sie hatte doch schon vor vier Wochen mit ihm Schluss gemacht.

      "Was willst du noch?" fragte sie ihn also direkt. "Kannst du nicht begreifen, dass es aus ist zwischen uns?"

      Henri schluckte, wollte aber freundlich bleiben und fragte deshalb ganz harmlos:

      "Hast du dir gerade wieder Tee aufgebrüht, als das Telefon klingelte?"

      Soweit kannte er sie immerhin, dass er wusste: Ihre Teestunde war ihr heilig, da wollte sie von nichts und niemandem gestört sein.

      "Komm, sei doch nicht so grantig", fuhr er fort, "wir hatten uns doch ausgemacht, Freunde zu bleiben. Ich wollte dir eigentlich nur einen schönen Urlaub wünschen. Und komm gesund wieder!"

      "Danke!"

      Das sagte sie leise und sie merkte selbst, wie erleichtert es klang. Sie spürte auch, wie verlegen sie wurde, denn es tat ihr schonLeid, Henri so abgekanzelt zu haben. Er hatte ja recht, sie waren schon nach ein paar Monaten in aller Freundschaft auseinandergegangen, weil sie gemerkt hatten, dass das Gefühl, das sie füreinander empfanden, nicht für ein ganzes Leben reichen würde. Ihr Anflug von Groll war so schnell verflogen wie er gekommen war. Deshalb legte sie auch nicht sofort wieder auf wie sie es eigentlich anfangs vorgehabt hatte.

      "Du bist heute schon der zweite, der mich auffordert, gesund wiederzukommen. Ich gebe mir Mühe - also dann tschüs, ich muss jetzt weiter packen. Vielleicht schreibe ich dir ja eine Karte. Lass´ es dir gut gehen!"

      Was redete sie da? Ehe noch mehr aus ihr herauskam, was sie lieber für sich behalten wollte, steckte sie nun das Mobilteil tatsächlich zurück in die Mulde.

      Henri würde sich Gedanken machen, das wusste sie. Er sollte es sich gut gehen lassen? Sie konnte wohl derartige Wünsche besser gebrauchen. Sie war fast sicher, dass er sie noch immer mochte, auch, wenn sie ihm nie alles erzählt hatte. Vielleicht war ihm doch nicht entgangen, dass sie immer öfter das Gesicht verzog, wenn sie sich unbeobachtet fühlte? Jedenfalls war so nach und nach an die Stelle von Leidenschaft und Sex, Freundschaft und Mitgefühl getreten. Das hatten beide bemerkt und sich auch offen eingestanden. Sie fand auch nichts dabei, dass er seit einer Woche mit einem anderen Mädchen, einer hübschen, fröhlichen Zahntechnikerin zusammen war. Er hatte ihr ja selbst erzählt, dass Mandy für alle seine Verrücktheiten zu haben sei. So ist sie zum Beispiel genauso gern mit dem Motorrad unterwegs wie er. Bestimmt würde er sie im Juni auch zum Bikertreffen mitnehmen. Davon hatte Henri zwar noch nichts erzählt, aber sie wünschte ihm alles Glück mit Mandy.

      Annes Gedanken an Henri und daran, wie aus Liebe Freundschaft geworden war, wurden jäh unterbrochen. Da war es wieder, dieses hartnäckige Stechen im Bauch. Sie musste jetzt Ruhe bewahren, schloss die Augen und lehnte sich noch einen Moment an die Garderobe. Als der Schmerz nach ein paar Minuten immer noch nicht abgeklungen war, gab sie sich einen Ruck und quälte sich bis in die Küche.

      Zitternd wühlte sie in ihrer Hausapotheke herum, die aus einem ausgedienten Schuhkarton bestand. Endlich kamen die Zäpfchen hinter Mullbinden, Augenklappen und Hoffmanns Tropfen zum Vorschein.

      Anne verschwand erleichtert im Bad und setzte sich nach einer kurzen Verschnaufpause gemütlich in den Sessel. Sie genoss die Stille um sich herum, den Anblick ihrer Grünpflanzen sowie den Duft und den Geschmack ihres heißen Jasmintees.

      In Annes kleiner Einraumwohnung brauchte sich niemand darum zu kümmern, ob die Vorhänge richtig zugezogen waren oder nicht. Es gab dort überhaupt keine Gardinen. Vor den Fenstern standen unzählige Blumentöpfe, einige auf dem Fensterbrett, andere auf robusten Holzhockern und die ganz großen, wie zum Beispiel der kleinblättrige Gummibaum und die Dieffenbachie sogar auf dem Fußboden. Anne gefiel dieser gewächshausartige Raum mit den hellen Holzmöbeln, der ihr gleichermaßen als Wohnzimmer, Bibliothek, Esszimmer und Schlafstätte diente.

      Gleich würden die Schmerzen aufhören, hoffte sie, dann könnte sie endlich weiter packen.

      Es war schon fast Mitternacht, als schließlich alles in ihrer schwarzen Reisetasche mit den blauen Paspeln verstaut war. Die Tasche hatte ihrer Mutter gehört. Kaum war ihr das eingefallen,