Lars von Hasseldorf

Nakam


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      NAKAM

      Lars von Hasseldorf

      Impressum

      Texte: © Copyright by Lars von Hasseldorf

       Umschlag:© Copyright by Lars von Hasseldorf

      Verlag:Lindenberg

      Hasseldorf 4, Vorpommern

      Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

      Ich kann das, was ich über das Leben gelernt habe in drei Worten zusammenfassen: Es geht weiter.

      Robert Frost

      Kapitel 1

      Und zum ersten Mal, seit sie die Sommer hier verbrachte, lag in der Stille im Haus etwas Unheimliches. Das Knacken von kleinen Ästen im nahe gelegenen Olivenhain. Sie wusste, es waren die Katzen vom Hof in der Nähe. Aber dieses Knacken hätte auch von etwas Größerem, Schwererem stammen können. Dafür ist die Zeit zu knapp, beruhigte sie sich, und sie merkte, wie ihr Rachen so trocken wurde, dass ihr das Schlucken schwerfiel.

      „Mami, was ist los?“ Die Stimme ihrer Tochter drang durch den Schleier ihrer Gedanken. „Was wollte deine Freundin?“

      Beatrix bemerkte die Verunsicherung in Larissas Stimme. „Trinken wir noch was?“, hörte sie sich möglichst unverfänglich fragen, während ihre Gedanken rasten. Von Stuttgart-Stammheim bis San Miniato sind es immerhin acht Stunden. Nur acht Stunden. Per Anhalter? Länger. Mit dem Zug? Auch. Mit einem gestohlenen Auto und aller Kraft des Hasses? Zu schaffen.

      „Larissa, hör zu.“ Ruckartig drehte sie sich um. Ein Stein war gegen den alten Öltank geknallt. Hinter dem Haus.

      „Mami, was ist los?“

      Sie bemerkte, wie die Angst in Larissas Stimme aufstieg. „Was hast du?“

      „Geh nach oben, hol deine Sachen, wir fahren.“ Sie war überrascht, wie barsch und klar ihre Ansage war.

      Larissa, die sonst nicht mal den Müll rausbrachte, wenn ihre Mutter sie mit Engelszungen darum bat, gehorchte sofort. Doch Beatrix sah, wie ihr Tränen der aufkommenden Angst in Larissas Augen stiegen. Wie schön und anmutig sie schon war mit ihren dreizehn Jahren. Fast schon eine junge Frau. Alles, alles durfte passieren. Nur Larissa durfte auf keinen Fall etwas geschehen. Beatrix würde ihr Leben für sie einsetzen.

      Sie musste sich wieder beruhigen. Klare Gedanken fassen. Zögerlich, fast tastend, ging sie zur Vordertür hinaus. War es vorhin schon so stockfinster gewesen? Wo war der Mond, das Licht, das vorhin noch so friedlich alles beleuchtet hatte? Sie schaute nach oben. Das ist ja lächerlich. Du übertreibst. Du verfällst in Panik. Lange schwarze Wolken verdeckten den Himmel und erstickten das Licht der Nacht.

      Sie trat zurück in den Hausflur und hörte Larissa in ihrem Zimmer. Es war doch Larissa? Ihre Schritte klangen schwerer als sonst. Sie griff nach dem Schlüssel des altersschwachen Fiat, mit dem sie sich fröhlich und unbeschwert auf den Weg gemacht hatten. Sie hatten zehn Stunden gebraucht. Fuck! Ein Wort, das sie sonst nie benutzte. Der Tank war fast leer. Das reicht keine zehn Kilometer mehr. Ich wollte ihn auftanken. Ich wollte ihn auftanken. Fuck. Fuck. Fuck. Sie rannte zum Fiat. Die Wagentür war nicht abgeschlossen. Sie zitterte, als sie versuchte, den Schlüssel in die Zündung zu bekommen.

      „Mami!“ Larissa stand mit ihrer Tasche auf der Veranda und irgendetwas schien hinter ihr zu stehen.

      „Larissa! Komm her!“

      Larissa hatte den letzten Rest ihrer teenagerhaften Fassung verloren und rannte los.

      Beatrix drehte den Schlüssel im Zündschloss. Keine Reaktion. Zweiter Versuch. Nichts. Sie bewegte das Lenkrad, trat auf das Gas, drehte die Zündung. Nichts.

      Sie hatten sich beim Italiener, ihrem Stammitaliener, kennengelernt. Es war ein Abend, wie er nicht so häufig vorkam bei Paolo. Die Stimmung war überschäumend, Korken knallten, Flaschen wurden spendiert und Männer forderten die Frauen auf dem nächtlichen Trottoir zum Tanz auf. Charmant und männlich war er aufgetreten. Andreas. Und dafür, dass er irgendwas mit IT machte, war er geradezu ein Prachtexemplar. Als er sagte, dass sie sich kennen würden, hielt sie das für einen dümmlichen Anmachspruch. Er erzählte dann von einem Sommer-Abend in Italien. Vor langer Zeit. Sie erinnerte sich. Schemenhaft. Da war etwas. Sie kannte ihn. Das ließ ein Gefühl der Vertrautheit aufkommen. Wer seine Sommer auf einem italienischen Festen verbrachte, konnte kein schlechter Mensch sein. Doch sie hatte sich im Griff gehabt in dieser Nacht. Ein Kuss, vielleicht zwei. Säuselndes Aneinanderschmiegen zu alten italienischen Liedern, sich ein bisschen begehrt fühlen, ein bisschen Frau sein. Larissa war fünfeinhalb und der Babysitter bis ein Uhr morgens bezahlt.

      Ihre Handynummer hatte sie ihm gegeben. Dem Andreas. Und dann erst mal nichts gehört. Ihn fast vergessen. Er wusste, wie man das Spiel spielt. Und dann kam direkt ein Anruf. Keine feige SMS. Essen. Picknick in der Sommerfrische? Larissa beim Vater, was selten genug klappte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Er schien Manieren und so etwas wie Geschmack zu haben. Geld war auch vorhanden und seine ruppige Art, sich ihr zu nähern, würde sich sicherlich ausschleifen. Pah, da hatte sie schon anderes erlebt.

      Larissa. Andreas. Andreas. Larissa. Die offizielle Vorstellung. Sie mochte ihn. Sie wurde nicht stutzig, als er schnell, schneller als schnell bei ihr einzog. Sie wollte es ja auch. Endlich war wieder jemand da, der ihr zuhörte, ihr half mit der Tochter und für sie, nur für sie da war. Hätte jemand nach der perfekten Beziehung gefragt, sie hätte laut „hier“ geschrien. Sie lachten zusammen. Sie alberten herum. Sie machten sich lächerlich verliebt vor anderen und fanden es großartig. Er filmte alles mit seiner Kamera, einem verschrobenen alten Modell mit Kassetten. Larissa auf dem Arm. Larissa und Mami beim Picknick. Der tolle Bootsausflug. Beim Filmen wäre er beinahe über Bord gegangen. Sie mochte ihn. Liebte sie ihn sogar? Es fühlte sich so an und er sagte es ihr ständig, immer, jeden Tag. Sie wollten heiraten. Nein, das stimmt so nicht. Er wollte sie heiraten. Sie zögerte noch, im Grunde mehr aus Koketterie denn aus Zweifel.

      „Seid ihr dann Mami und Papi?“, fragte Larissa immer.

      Es trieb Beatrix die Tränen in den Augen.

      Sie wollten es ihren Eltern sagen und er wollte es filmen. Natürlich. Am nächsten Tag, einem Freitag, wollten sie die hundert Kilometer mit dem Auto fahren. Er war am Abend davor beim Sport oder woanders, so richtig wusste sie das nie. Sie nahm schon mal die Kamera, um sie einzupacken. Ein rotes Lämpchen leuchtete und blinkte. Der Akku neigte sich dem Ende zu. Sie suchte nach der Kameratasche, um das Ladekabel anzuschließen, und fand sie schließlich ziemlich weit hinten im Schrank. Fein säuberlich beschriftet lachten sie die Kassettenhüllen an. Sie musste schmunzeln, als sie die Titel las und die Erinnerungen wiederkamen. „Bootsausflug mit Larissa und Beatrix“ stand da.

      Sie schob die Kassette in das dafür vorgesehene Fach und drückte auf Play. Sie lachte laut auf, als sie die Aufnahmen auf dem kleinen Bildschirm der Kamera wiedersah, und bremste sich, weil sie Larissa nicht wecken wollte. Sie spulte ein wenig vor. Sie wollte die Szene sehen, wo er fast über Bord gegangen war.

      Und da war es. Kurz nachdem sie das Spulen beendet hatte, veränderte sich das Bild. Es wurde krisselig, als wäre im Spurlauf der Kamera etwas kaputt. Sie schüttelte die Kamera ein wenig und dann wurde es wieder klar. Sie sah Larissa in ihrem romantischen Kinderbett liegen, schlafend, aus einem gewissen Abstand gefilmt. Friedlich sah sie aus. Andreas, der die Kamera irgendwo aufgesetzt haben musste, näherte sich ihrem Bett, hob die Bettdecke und betrachtete sie. Er trug ein T-Shirt und diese Boxershorts mit Motiven drauf, die sie immer als etwas lächerlich empfunden hatte. Er legte sich zu ihr. Larissa wurde wach. Sie schlug die Augen auf, diese wunderschönen Augen, und Beatrix sah Angst in Larissas Augen. Verzweiflung. Er berührte sie. Fasste sie an. Hart. Bestimmend. Keine Widerrede duldend. Er presste ihr seine große schwere Hand auf den kleinen, sechsjährigen Mund und die Hand fuhr brutal zwischen ihre Beine.

      Das Bild wurde schlechter. Wie verrückt schüttelte Beatrix die Kamera und es wurde wieder klarer. Sie spürte, wie ihr übel wurde. Sie wollte schreien, doch