ragen ihm aus Mund und Nase. Drähte führen zu einem fahrbaren Tisch voller elektronischer Instrumente. Auf einem davon zuckt regelmäßig eine Herzschlagkurve. Offenbar liegt er wieder im Koma. Der Grund, weshalb ihn niemand besuchen soll, ist offenbar nicht, dass er Ruhe und Einsamkeit braucht, sondern dass niemand erfahren soll, dass es ihm nicht gut geht. Etwas muss hier in der Klinik schief gegangen sein. Oder …
„Spezialagentin Amelie?“
Sie bekommt fast einen Herzschlag, als sie die geflüsterte Stimme hinter sich hört. Sie fährt erschrocken herum. Ein dicker Mann mit wirren Haaren und Hornbrille hockt hinter ihr. Er trägt den gleichen Patientenbademantel wie der Schriftsteller.
„Sir William, im Geheimauftrag Ihrer Majestät, zu deinen Diensten“, stellt er sich vor. „Bitte folge mir!“
Amelie betrachtet den Verrückten misstrauisch. Wie hat er es geschafft, sich unbemerkt anzuschleichen?
Sir William scheint ihre Zurückhaltung zu spüren. „Ich weiß, wir Geheimdienstleute wirken manchmal etwas einschüchternd auf Zivilisten. Aber du kannst mir vertrauen. Ich bin auf deiner Seite.“ Er deutet mit dem Kopf auf das erleuchtete Fenster. „Der Feind hält unseren besten Agenten gefangen und verhört ihn mit brutalen Methoden. Wir müssen ihn befreien! Deshalb habe ich im Hauptquartier Verstärkung angefordert. Gut, dass du endlich da bist! Jetzt komm, sonst erwischen sie uns noch!“
Amelie folgt dem Dicken zu einer angelehnten Seitentür. Der Gang dahinter ist dunkel.
„Pssst!“, macht Sir William überflüssigerweise. Er schleicht um eine Ecke und verschwindet in einem Zimmer auf der anderen Gangseite, in dem Licht brennt.
Als Amelie den Raum betritt, blicken ihr drei neugierige Gesichter entgegen. Eines gehört einer älteren Frau mit langen weißen Haaren. Sie sitzt im Schneidersitz auf einem Bett und lächelt.
„Das ist Ismalda, die Prophetin“, stellt Sir William die Frau vor. „Sie hat dein Kommen bereits angekündigt. Dort auf dem Stuhl sitzt Elfie. Du kannst sie wahrscheinlich nicht sehen, denn sie ist ein Gespenst und zeigt sich nur ihren Freunden.“
„Keine Sorge, ich habe mich ihr offenbart“, sagt das angebliche Gespenst. Die junge Frau hat hellblonde, kurze Haare und blaue Augen.
„Und das hier ist Karl, du hast ihn ja schon gesehen. Er behauptet, er sei Gott, aber ansonsten ist er ganz okay.“ Sir William zwinkert Amelie zu.
Karl erhebt sich von seinem Stuhl und reicht Amelie förmlich die Hand. „Schön, dass du gekommen bist. Du spielst nämlich eine wichtige Rolle in meiner Geschichte.“
„Was ist mit Marko?“, fragt Amelie. „Was haben sie mit ihm gemacht?“
„Er wurde vom Feind überwältigt und in eine Verhörzelle gebracht, wo sie ihn auf grausamste Weise foltern“, erklärt Sir William. „Bis jetzt ist er standhaft geblieben und hat ihnen den Aufenthaltsort Ihrer Majestät nicht verraten! Aber ich fürchte, auf Dauer wird er dem Druck nicht standhalten können. Schwester Christa kennt alle Tricks, wie man jemanden zum Reden bringt.“ Er schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Ich sage, wir starten eine Befreiungsaktion! Jetzt gleich!“
„Beruhige dich, Sir William!“, ermahnt ihn Elfie. „Du wirst uns noch die Pfleger auf den Hals hetzen!“
„Sie haben ihn in ein künstliches Koma versetzt“, erklärt Karl.
„Wer?“, fragt Amelie. „Und warum?“
„Dr. Johannsen. Damit er nicht redet.“
„Unsinn!“, mischt sich Sir William ein. „Sie wollen ihn doch zum Reden bringen!“
Amelie blickt verwirrt zwischen den beiden hin und her. Ihr wird klar, dass sie hier nichts Sinnvolles erfahren wird. Sie muss so schnell wie möglich verschwinden und Markos Mutter darüber informieren, dass Dr. Johannsen lügt.
„Hab keine Angst“, meldet sich die Prophetin Ismalda zu Wort. Sie lächelt immer noch sanft. „Alles wird gut!“
Karl wirft ihr einen bösen Blick zu. „Musst du immer alles vorhersagen? Du vermasselst die ganze Spannung!“
„Danke für eure Hilfe“, sagt Amelie. „Aber ich muss jetzt gehen.“
Karl schüttelt den Kopf. „Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.“
„Was meinst du damit?“, fragt Elfie.
„In meinem Buch steht leider etwas anderes.“
Amelie hat genug gehört. Sie wendet sich zur Tür, die genau in diesem Moment auffliegt. Die ältere Frau, die heute Nachmittag hinter Karl her war, betritt in Begleitung des Pflegers Bertram das Zimmer.
„Hab ich’s mir doch gedacht!“, sagt sie.
„Verrat!“, ruft Sir William. „Die Sicherheit wurde kompromittiert! Für die Königin!“
Er stürzt sich auf Bertram und versucht, ihn mit einem Karateschlag gegen den Hals niederzustrecken. Doch der stämmige Pfleger wehrt den Angriff mühelos ab und ringt den Dicken zu Boden, wo er ihn mit einem Knie im Rücken festhält. Die anderen Patienten sitzen wie gelähmt da. Nur Ismalda lächelt immer noch.
„Wer bist du, und was willst du hier?“, fragt die Pflegerin.
„Mein Name ist Amelie Schiller. Ich … ich wollte einen Patienten besuchen. Marko Leyenbrink.“
„Mitten in der Nacht? Wie bist du überhaupt hier reingekommen?“
„Ich … äh … ich war heute schon einmal hier. Ich habe mit Dr. Johannsen gesprochen.“
„Er hat dich in die Klinik eingewiesen? Wieso weiß ich davon nichts?“
„Nein, nein. Ich bin bloß eine Freundin von Marko Leyenbrink.“
„Das stimmt“, bestätigt Pfleger Bertram.
„Du bist wegen Marko hier? Warum sagst du das nicht gleich?“ Die Stimme der Pflegerin wird freundlich. „Ich bin Schwester Christa. Komm, ich bringe dich zu ihm. Lass dich von den Verrückten hier nicht irre machen. Die stellen dauernd irgendwelchen Unsinn an.“
„Glaub ihr nicht!“, ruft Elfie. „Sie ist die Schlimmste von allen!“
„Wir sprechen uns noch“, sagt Schwester Christa. Sie fasst Amelie am Arm und führt sie hinaus auf den Flur.
„Was ist mit Marko passiert?“, fragt Amelie. Sie traut der Pflegerin nicht, doch es erscheint ihr am klügsten, sich kooperativ zu verhalten.
„Er hat einen Rückfall erlitten. Heute Nachmittag. Es ging ihm gut und wir dachten, er sei auf dem Weg der Besserung, doch dann ist er plötzlich zusammengebrochen. Wir versuchen alles, um ihn wieder zurückzuholen.“
„Warum wurde er nicht ins Krankenhaus gebracht?“
„Keine Sorge, wir sind hier auf alle Eventualitäten vorbereitet. Marko hat Glück, dass er in den Händen eines der besten Psychiater ist. Wenn jemand ihm helfen kann, dann Dr. Johannsen.“
Amelie folgt ihr in das Krankenzimmer. Markos Augen sind geschlossen. Wenn die Schläuche und das gleichmäßige Piepen der Apparate nicht wären, könnte man meinen, er schliefe friedlich.
Sie beugt sich über ihn. „Marko!“, flüstert sie. „Marko, kannst du mich hören?“
Eine Träne tropft auf seine Wange. Er zuckt leicht. Nur ein Reflex?
„Keine Sorge“, sagt Schwester Christa sanft. „Du bist gleich bei ihm!“
Noch bevor Amelie den Sinn dieses seltsamen Satzes begreift, spürt sie einen schmerzhaften Stich im Hals. Sie versucht, danach zu greifen, doch Schwester Christa hält ihren Arm fest.
Marko!, will sie rufen, doch aus ihrem Mund kommt nur ein Stöhnen, bevor sie in Dunkelheit versinkt.
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