Stefan Zweig

Begegnungen mit Büchern


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wieder heraufbeschwor als jene:

      Da sich ein Quell gedrängter Lieder

       Ununterbrochen neu gebar.

      Das Gestirn steigt an zum Mittag des Lebens, weit sind die Fernen erhellt im immer klareren Licht des Erkennens, aller Zeiten und Völker Horizont wölbt sich über der einzelnen Existenz, alle Formen sind gewonnen und aus ihnen die Harmonie. Die unendliche Landschaft der Goetheschen Welt in der Vielfalt seines Gedichts, nun erst, in diesem mählichen Aufstieg vom spielerischen und dumpfen Beginn, nun erst fühlt man sie in ihrer einzigen Gewalt. Und fühlt zugleich schon, wie seine eigene Gestalt in der ungeheuren Allegorie seiner gesteigerten Existenz wieder zu verschwinden beginnt. Der sich in den ersten Blättern dieses Buches so restlos, so leidenschaftlich verriet, allmählich beginnt er sich zu verbergen. Der Weise verschattet den Dichter, der öffentlich wirkende Mensch den stürmenden Gestalter, das Symbol die Anschauung, die Scharade das Geständnis, orphisches Dunkel das bewegte Farbenspiel: wunderbar fühlt man in dem Marmorwerden des Gedichts die erste Kühle vom Alter her, das Erkälten des Blutes im antikisch-orientalischen Formenzwang. Legt man nun ein Bildblatt sich neben das Buch, so ist's die Abbildung der steinernen Büsten David d'Angers oder Rauchs, das Bildnis des Weisen, dem mehr als vordem das unruhig dunkle Auge nun die hochgewölbte freie Stirn das Antlitz bedeutsam macht. Unmerklich ist man im Blut seiner Gedichte ans Ende seines breitgefügten, ewig fruchtbereiten Lebens mitgealtert, und eben an dieser Sanftheit und Selbstverständlichkeit des Überganges spürt, erlebt man das einzig Organische dieser Existenz, in der sich nichts in starren gewaltsamen Epochen stößt und grenzt, sondern alles in einheitlicher Verknüpfung sich ablöst und steigert. So viel immer auch in ihm neu beginnt, nichts ist doch jemals ganz zu Ende, alles hat seine »Dauer im Wechsel«, und kaum hat man's je ergreifender gefühlt, wie – er hat es selbst das erhabene Vorrecht der Großen genannt – in dem versteinerten, erstarrenden, einsamen, abseitig sich fördernden Meister die Jugend, die eigene, immer wieder noch einmal anhebt. Man liest die Verse der späten Jahre zu Weimar, bittere Sprüche, marmorne Bildungen starkvergeistigten Gefühls, schon weht's einen kühl an, da wendet man das Blatt, »Reise nach Franken« steht darauf oder »Reise nach Böhmen« mit einer späten Zahl seines Lebens, und man spürt eine Begegnung, denn in diesen Versen an Marianne v. Willemer oder Ulrike v. Levetzow belebt sich wunderbar noch einmal der lyrische Gestalter in ihm, und staunend erkennt man das Wunder der ewigen Erneuerung des Gefühls. Nie, vom ersten bis zum letzten Blatt, das die mit zitternder Hand in den Märztagen des Todesjahres hingeworfenen Verszeilen birgt, steht man innerlich allein und fremd in dieser ungeheuren Landschaft seines Wirkens, und mit großartiger Geste faßt der Siebzigjährige den ganzen Ertrag dieses Weltblickes in die einzige lyrische Zeile zusammen: »Wie es auch sei, das Leben, es ist gut.«

      Dieses tiefe Geheimnis der Selbstverwandlung der Kunst mit dem fortgelebten, von Kindheit zum Alter, ständig belebtem Leben, dieses Geheimnis eines Werkes, das über zwei Menschenalter hin sich wölbt, war schon im ›Faust‹ und im ›Wilhelm Meister‹ uns einmal mitzufühlen gegönnt, in beiden Werken, die seine Jugend begonnen, sein Alter vollendet und sein Leben geschaffen hat. Diese organisch gestaltete Anordnung seiner Gedichte läßt es uns nun zum drittenmal betrachtend fühlen, daß Werk und Leben ein einziges untrennbares, blühendes und langsam welkendes Wesen bei Goethe sind, und niemals hat man es vielleicht besser gefühlt als im vergleichenden Genießen, denn jedes Gedicht ist nun durchtränkt vom Sinn des Ganzen und das Ganze wieder beseelt von jedem einzelnen Vers. Daß auch notwendigerweise das Nichtige einbezogen ist, die zahllosen Verse, in denen das tote Material des Verses und des Reimes in Abwesenheit des produktiven Elements sich gleichsam selbst fortgedichtet hat, gerade dies verinnerlicht und verwahrheitlicht das menschliche Bild, ohne das des Künstlers zu vermindern. Gerade in dem zeitlichen Nebeneinander des großartigen Gedichtes mit den kleinlichsten Gelegenheitsversen mag der Unbelehrte spüren, daß auch in dem gewaltigen Menschen wie im Täglichen auch im Geistigen die niederen Funktionen den erhabenen eng benachbart sind und eben die Gemengtheit des Gestalteten die nur gelegentliche Gegenwart des Genius in der Wirrheit des täglichen Tages zum höheren Wunder macht. Vermenschlichung eines Werkes fördert immer mehr sein letztes Verstehen als seine Vergöttlichung, und diese wird hier geboten durch die Gesamtheit, die wahllose, seiner Verse und die sinnvolle Anordnung in ihrem eigentlichsten Sinne, dem seines eigenen Lebens.

      Und dieses Leben Goethes, mehr als je, erneut sich's in diesen unseren Tagen. Zwei umfassende, breitwuchtige und innerlich tiefgründige Darstellungen, die Houston Stewart Chamberlains und Georg Simmels, haben fast gleichzeitig es in seiner ganzen bedeutsamen Fülle darzustellen versucht, in einem Tafelwerk ›Goethes äußere Erscheinung‹ hat man handlich alle Bilder dem Blick vereint, und in Weimar sind die Kärrner am Königsbau unablässig am Werk. Es galt lange als gute literarische Sitte, ihrer zu spotten, daß sie jeden Waschzettel bergen, jeder Spur bis in Staub und Schutt nachspürten, die er jemals gegangen – mir war's nie gegeben, diese stille und doch leidenschaftliche Tätigkeit als eine minderwertige zu empfinden, denn jede Hingabe an das Gewaltige will mir fruchtbar erscheinen und gerade diesen regen stillen Menschen danke ich vielfachsten Gewinn. Hans Gerhard Gräf, der diese meisterhafte Anordnung der Gedichte schuf (die auf schwierigsten Konjekturen ruht, auf Entzifferungen mühevollster Art und Forschungen, die über Jahre hingehen), hat in dem neunbändigen Werk ›Goethe über seine Dichtungen‹ ein einziges Kompendium der Selbstbewertung eines Dichters geschaffen, und das nüchterne Diarium, das Kalendarium, das er plant, wird uns – möge er's doch vollenden! – Tag für Tag dieses exemplarischen Lebens, die ganze Tätigkeit von jedem Morgen zum Abend zeigen und damit dem ewig unverständlichen Geheimnis von Goethes Lebenskunst näher bringen, als jede weitschweifige und geistige Darstellung. Schicht für Schicht bauen dort fleißige Hände die ganze irdische Existenz noch einmal auf, allmählich wandert jedes Blatt, das er geschrieben, jedes Bild, das ihn darstellt, nach Weimar wieder hin, in das Haus, von dem in zahllosen Manifestationen die Flut, die niemüde, seines Wirkens sich ausströmte in die Welt, ebbt sie wieder zurück. Jedes Möbelstück – wie viele mußten zurückgeholt werden aus ihrer Diaspora – steht nun wieder auf dem alten Platze und grüßt die Besucher wie einst, da sie ihn selbst suchten, den Gewaltigen; mitten im Kriege haben die Sorglichen mit deutschem Bedacht dort die Sammlungen von Steinen, Pflanzen, Kameen, an denen er mit so viel Liebe hing, in die er so viel Zeit und suchende Kraft verinnerlicht hat, sichtbar gemacht und damit eine neue Facette seiner Existenz belichtet. Einzelarbeiten scheinen sie alle zu tun und sind doch Wirkende gemeinsamer Tat, denn mehr als ein Denkmal ist es, ein starres, das sie schaffen, die Tat in Weimar gilt im letzten der Erneuerung seiner realen Existenz, einem sichtlichen Symbol seiner inkommensurablen Persönlichkeit. Dort, wo es körperlich verloschen ist, sein Leben, baut es sich geistig aus seinen eigenen Elementen wieder auf, und in dem Maße, als er durch die Zeit, die fühllose, ferner wird, macht ihn sorgliche Hingabe und werktätige Liebe wieder nah.

      Zu Goethes Gedichten

       Vorrede zu meiner Auswahl von Goethes Gedichten im Verlag von Philipp Reclam jun.

      Das erste Gedicht Goethes malt die ungelenke Kinderhand des Achtjährigen auf ein Geburtstagsblatt für die Großeltern. Das letzte Gedicht Goethes schreibt die zweiundachtzigjährige Greisenhand, einige hundert Stunden vor seinem Tode. Innerhalb so patriarchalischer Weite des Lebens schwebt unwandelbar die Aura der Dichtung über diesem unermüdlichen Haupt. Es gibt kein Jahr, in manchem Jahr keinen Monat, in manchem Monat keinen Tag, wo dieser einzige Mensch sich das Wunder seines Wesens nicht selbst in gebundener Rede erläutert und bekräftigt hätte.

      Mit dem ersten Federzug beginnt also bei Goethe die lyrische Produktion, um erst mit dem letzten Atemzug zu enden: Dichtung ist ihm ebenso unentbehrlich und selbstverständlich für die ständige Interpretation seines Lebens wie Strahlung dem Licht und Wachstum dem Baum. Sie wird durchaus organischer Vorgang, eine Funktion des Elements Goethes, eine nicht wegdenkbare, und fast wagt man nicht, sie Tätigkeit zu benennen, weil Tun schon etwas an den Willen Gebundenes ausdrückt, indes sich bei dieser notwendig schaffenden Natur die dichterische Reaktion gegen den Andrang des Gefühles gleichsam chemisch und bluthaft vollzieht. Der Übergang von der prosaischen Sprache ins gereimte und dichterische Wort geschieht bei ihm völlig zwanglos: mitten im Brief, im Drama, in der Novelle rauscht die Prosa plötzlich beflügelt in die ungebundene Form dieser höheren Gebundenheit. Jede Leidenschaft schwebt in ihr