Stefan Zweig

Begegnungen mit Büchern


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sich erkennen zu lassen. So ist der Wunsch nur allzu verständlich, durch eine Auswahl diese Vielzahl zu deutlicherer Übersicht zu verkürzen.

      Freilich, mit wie hohem Anspruch tritt ein solches Unterfangen, aus Goethes lyrischer Welt die wesentlichsten Verse zu wählen, an einen einzelnen heran, der sich dieser Auswahl vermißt! Und nur die bescheidene Erkenntnis kann ihm seine Verantwortung mindern, daß bei einer solchen Lese nicht sein eigenes Wertgefühl hochmütig entscheidet, sondern unbewußt der Geist seiner ganzen Generation in dieser Aufgabe mitwaltet. Denn Goethes Bildnis und Leistung – verleugnen wir uns diese Tatsache nicht – tritt in immer anderer Gestalt und Verwandlung an jedes Geschlecht und innerhalb dieses an jedes Lebensalter andersdeutig heran. Nur scheinbar hat am 22. März 1832 die Kette jener geistigen Metamorphosen geendet, die wir Goethe nennen: in Wahrheit verwandelt sich sein Bildnis und seine Wirkung noch immer fort innerhalb der Zeit und der Zeiten. Noch immer ist Goethe kein starrer Begriff, keine literaturgeschichtlich mumifizierte Gestalt geworden: jedem Geschlecht gibt er sich in neuem Sinn, jeder Neuwahl mit neuer Form. Um nur innerhalb des Lyrischen zu bleiben: welche Wertwandlung hat allein sein ›Westöstlicher Diwan‹ erfahren, mit welcher Überwucht tritt diese magische Selbstenthüllung des Alternden an unser Gefühl heran, das gleiche Werk, das seine Zeitgenossen und noch das neunzehnte Jahrhundert ihm als skurriles und tändlerisches Maskenspiel bloß gerade noch verziehen! Und wie hat sich anderseits der Balladen-Goethe der Schiller-Zeit und manches volkstümliche Gedicht, vielleicht auch weil allzuoft abgeleiert, unserer Wertung entfremdet! Der olympische Schul-Goethe, der allen verständliche, der klassische Künstler einer uns seit Hölderlin und Nietzsche nicht mehr zugänglichen Antike, immer mehr tritt diese allzu faßbare Gestalt gegen den großartig orphischen Bildner seiner geheimnisvollen Gedichte, seiner wahrhaft kosmischen Weltumfassung zurück. Durchaus wird also eine Lese des zwanzigsten Jahrhunderts sich anders gestalten müssen, ganz abgesehen von der individuellen Wertung, als die Anthologien und Auswahlen des neunzehnten Jahrhunderts.

      Nur der ursprüngliche Maßstab schien noch der gleiche und gewissermaßen von selbst dem Abteilenden in die Hand gewachsen: heute wie damals muß vor allem versucht sein, das absolut lyrisch Gültige, das durchaus Beständige von dem Zufälligen und Unzulänglichen in der Fülle zu sondern. Leichte Arbeit dies für den ersten Blick, der meinte, es genüge vollauf, jene Verse wegzuräumen, die höfischer Forderung oder höflichem Gelegenheitsanlaß ihr Leben dankten, ferner alle die bloß spielhaften und zufallsgemäßen Schöpfungen, wo das Material des Verses und des Reimes als Zauberlehrling bei Abwesenheit des Meisters, des produktiven Elementes, gleichsam aus sich allein heraus weitergedichtet hat. Aber bald stellte unerwartete Schwierigkeit sich für den Wählenden ein, neue Frage, neue Entscheidung, ja Umstellung des ursprünglichen Prinzips. Denn bei diesem Scheidungs- und Reinigungsprozeß begegnet das wählende Gefühl oft gewissen einzelnen Gedichten, die sich gegen die Unterdrückung aus rein ästhetischen Gründen dank einer ihnen innewohnenden andersgründigen Kraft merkwürdig wehrten, die Anspruch des Daseins und Gewähltseins forderten, aus einem anderen Recht als dem ihres bloß künstlerischen Gewichtes. Und bald ward ich gewahr, daß, wie im Leben selbst, auch in der Kunst eine gewisse Legitimität durch Dauer des Daseins und gefühlsmäßige Wirkung vorhanden sein kann: Gedichte, die nicht um ihrer Kostbarkeit willen einen Lebenswert für uns haben, sondern als ein Pretium affectionis der Nation teuer geworden sind, als Liebeswert, von dem sich das Gefühl ebensowenig gern trennen würde wie von einem altvertrauten, zwar nicht kostbaren, aber durch Pietät längst geheiligten Gegenstand. Wie zum Beispiel entscheiden bei einem Gedicht wie dem ›Heideröslein‹? In sich betrachtet, scheint es vielleicht zu naiv belanglos für unser heutiges Gefühl, dazu noch belehren uns die Philologen, daß es Goethe gar nicht zuzuschreiben sei und bestenfalls als Bearbeitung eines längst bekannten Volksliedes zu werten. Der streng angewandte Maßstab forderte also hier Verwerfung – aber doch, wie ein Gedicht ausscheiden, das mit dem Schulbuch uns dem Namen Goethes zum erstenmal verband, dessen Melodie auf unserer Kinderlippe schwebt und kaum gerufen, Wort für Wort uns innerlich wach wird? Oder ein anderes Beispiel: Sicherlich sind die mehr witzigen als lyrischen Verszeilen »Vom Vater hab' ich die Statur« (unwillkürlich ergänzt sie jeder weiter – denn wer kennt sie nicht?) wenig bedeutsam, und der bloß ästhetische Richter müßte sie einer reinen Auswahl entziehen. Aber doch, wie dieses Blatt der »großen Konfession« ausscheiden, wo mit einem Riß Wesen und Ursprung seiner körperlich-geistigen Struktur scharf und unvergeßlich gezeichnet sind? Und so fanden sich wiederum andere Verse, in sich selbst nicht farbenkräftig genug, die besondere Leuchtkraft hatten durch den Widerschein von Gestalten und Situationen, manche Gedichte an Charlotte v. Stein, Lili und Friederike, mehr Briefblatt als Gedicht, mehr Seufzer und Gruß denn Kunstwerk, aber doch unentbehrlich dem biographischen Gesamtbild. Und bald erwies sich mir, daß die äußerste Strenge des ästhetischen Urteils da ein wunderbar Durchnervtes zerreißen würde, daß eine sich starr und unnachsichtig bloß auf den Kunstwert hin richtende Auswahl Lyrik und Leben, Anlaß und Aussage, Kunstwerk und Biographie gerade bei jenem Menschen zertrennen müßte, dessen wunderbar aufgestufte und organische Menscheneinheit wir ebensosehr als Kunstwerk empfinden wie die Kunst selbst. So wurde hier in weitherzigerer Auslese vielfach über die Ordnung des Stils als höheres Maß jene Norm gesetzt, die wir noch immer als höchste Ordnung eines irdischen Wesens innerhalb aller Zeiten empfinden: das Leben Goethes als schaffendes Geheimnis.

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      Nicht nur aber die Auswahl selbst, auch die Anordnung der Gedichte wurde dann von dieser endgültigen Überzeugung bestimmt, daß Werk und Leben bei Goethe eine untrennbare Ganzheit seien; sie ist eine chronologische und reiht die Gedichte (die meisterliche Arbeit Hans Gerhard Grafs nutzend) in der zeitlichen und darum natürlichen Folge ihrer Entstehung. Eine solche Einteilung hat scheinbar allerhöchste Autorität gegen sich, nämlich jene des Dichters selbst, der in seiner »Ausgabe letzter Hand« das lyrische Gesamtmaterial in metrische Kategorien ordnete, deren Überschriften »Natur«, »Kunst«, »Sonette«, »Antiker Form sich nähernd«, »Gott und Welt« er allemal mit prägnanten Denksprüchen begleitete. Wie Blumensträuße sind dort die Verse nach ihrer geistigen Farbe, nach ihrer metrischen Klassifizierung, nach ihrer Spezies sorgfältig zusammengebunden und das ungeheure lyrische Reich aufgeteilt in einzelne Provinzen der Seele und der Sinne. In unserer Einteilung wiederum ist versucht, die kunstvollen Blumensträuße neuerdings auseinanderzubinden und jedes einzelne Gedicht neu einzusenken an die Stelle seines zeitlichen und ursprünglichen Gewachsenseins, getreu Goethes Wort zu Eckermann: »Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden.« In diesen Grund – das Wort im Sinn des Anlasses und der erdhaft zeitlichen Gebundenheit wird durch diese chronologische Anordnung jedes Gedicht wieder zurückgepflanzt. Nicht nach ihrem Sein und Dasein, sondern in der Folge ihres Gewachsenseins schließen sich hier den Gedichten des Jünglings die der Mannesjahre und jenen wieder die großartig begrifflichen Allegorien der Altersjahre an. Damit wird, glaube ich, eine einzige Überschau über dies gewaltige lyrische Strömen gewonnen, vom ersten Ausbruch der Quelle bis zum getragen machtvollen Übermünden ins Unendliche, und jeder einzelne Anlaß, Bilder und Jahreszeiten, Menschen und Geschehnisse, erscheint in dieser fortfließenden Welle naturhaft gespiegelt. Nicht zufällig beginnt die Auswahl mit jenen stürmenden Jugendstrophen, wo der Hammer des Herzens die starren Formen der deutschen Lyrik zerschlägt, und endet nicht zufällig in jenem geheimnisvollen Verschweben des »Chorus mysticus«, mit dem der Uralte den ›Faust‹, das »Hauptgeschäft seines Lebens«, und damit sein Leben selbst in das Unendliche verrauschen läßt. Dazwischen entbreitet sich der ganze Wandel irdischer Fahrt, Sturm und Kühlung des Blutes, rhythmisches Lebendigwerden und marmornes Erstarren des Gedichtes in kristallenen Formen, hinjagende Begeisterung, die allmählich aufschwebt zu schauendem Bedacht – jene ganz hohe Verwandlung, mit der hier ein Mensch das Allmenschliche allen Zeiten vorbildlich gelebt. In solch schicksalhafter Form erscheint die Lyrik Goethes dann nicht bloß als untermalende Begleitmusik seines Lebens mehr, sondern als symphonische Umfassung des ganzen Daseins, tönend geworden in einer einzigen irdischen Brust und uns unvergänglich gegenwärtig durch die verewigende Magie der Kunst.

      Gundolfs ›Kleist‹

      In seinem weitblickenden, durchdringenden und längst schon zu einem Gut Vieler gewordenen Goethe-Buch, hat Friedrich Gundolf die verbundenste, teilnehmendste, ein ganzes Zeitalter umfassende und durchbildende Gestalt