könnte denn wichtiger sein, überlegte er ein wenig später. Sollte er ein braver biederer Großvater sein und sein Leben den Kindern und Enkeln widmen? Er kaute mit unschönem Gefühl auf den Worten „brav“ und „bieder“ herum. Damit war die Antwort für ihn schnell klar. Unbewusst duckte er sich, als wolle ihn jemand angreifen. Ja, was wäre denn, wenn ich nicht brav und bieder bin, fragte er sich, fast wie zur Verteidigung. Er müsste täglich einen großen Teil seiner Zeit mit dieser Verteidigung verbringen, und am Ende würden wieder einmal die konservativen Elemente siegen,- ganz einfach schon deswegen, was sie viel mehr Ressourcen haben. Ist das der Grund, warum ältere Menschen meist konservativer werden? Er blieb die Antwort schuldig, merkte aber, dass für ihn diese Frage jetzt nicht im Mittelpunkt stand. Es wäre vielleicht besser, dieser ganzen Konfliktzone schlicht und einfach zu entgehen.
Was dann? Über Raum und Zeit nachdenken? Einstein nachstreben? Da musste er innerlich lachen. Doch ganz so lustig war die Sache nicht. Er lebte in einer Welt, wo praktisch alle Menschen in den überkommenen Kategorien von Raum und Zeit dachten. War uns die Stärke des Drucks, darin mitmachen zu müssen, gar nicht bewusst? Neigen wir ganz einfach dazu, dieses Problem zu verdrängen? Jetzt lachte er zwar nicht mehr, schmunzelte aber und fühlte sich fast schon wie ein wenig weiser. Wen interessieren denn schon Raum und Zeit? Dafür bekommst du kein Brötchen geschenkt, gehst anderen Menschen eher auf die Nerven damit.
Was denn? Er blieb stehen und machte unbewusst einen kleinen Schritt rückwärts. Einfach, schön und konsistent leben? Wieder musste er loslachen und wieder merkte er schnell, dass es auch hier nicht nur um Spaß ging.
Einfach war sein jetziges Leben sicher nicht. Was war es, das sein Dasein so kompliziert machte? Tausende von Regeln,- in Gesetzen fixierte, von der Gesellschaft akzeptierte und von einem Heer von zum Großteil gewiss überflüssigen Bürokraten verfochtene und zusätzlich noch in unbewussten stillschweigenden Tabus versteckte Regeln,- Regeln hier, Regeln dort,- wer musste da nicht nach Freiheit schreien? Aber kaum jemand tat das. Eine hoffnungslose Lage? Kaum jemand schien sich auch daran zu stören, dass diese Bevölkerung obendrein noch jenes riesige Heer von nicht schlecht bezahlten und gut versorgten Bürokraten finanzieren musste.
Und gab es Schönheit in seinem Leben? Er konnte bisweilen zwar hinfahren, wo es wirklich schön war. Das waren meist Gebiete, die schon von Leuten mit Beschlag belegt waren, welche gierig die Hände offen hielten. Schöne touristische Gebiete wie jetzt auf seiner Reise? Er konnte das nur mit Mühe und Not trotz stark reduzierter Ansprüche eine kurze Zeit bezahlen. Schöne Kulturveranstaltungen wie Theater, Konzerte und Ausstellungen? Teuer, teuer, und immer zur Passivität verurteilt. Schöne Menschen, gar eine schöne Frau? Die durfte er sich in dieser Welt als älterer Mensch vor allem im Fernsehen anschauen. Auch das wurde in zunehmendem und sehr fragwürdigen Maße finanziell von Leuten ausgeschlachtet, die gewiss weder Kunst ohne Establishment noch Religion ohne Kirche noch Wissenschaft ohne gewaltige Institutionen vertraten.
Zum Schluss kam noch die Frage nach Konsistenz an die Oberfläche. Aber wen interessierte das? Diese Wort gab es doch kaum oder gar nicht im Leben der meisten Menschen. War das nur sein eigenes Gehirngespenst? Dekonstruktivismus! Das kam ihm in den Sinn, als er daran dachte. Es schien ihm, als würde das zusammenhanglose Zersplittern unserer Welt sang- und klanglos akzeptiert und wie alles einfach als eine neue Kunstrichtung finanziell verwertet. Igor wurde fast wütend, als er sich klar machte, wie wenig die Menschen Zusammenhänge zwischen Kunst, Religion und Wissenschaft interessierten. Die Wirtschaft fördern, bis die Erde völlig zernagt ist,- Konsum, Konsum, Konsum!
Das ist alles nur ein großes Spiel, dachte er. Aber das Spiel gefiel ihm gar nicht. Was tun? In kleinen geduldigen Schrittchen versuchen, hier und da etwas zu ändern? Wieder verspürte er ein inneres Knurren. Einfach nicht mehr mitspielen? Wie sollte das möglich sein?
Er fasste innerlich zusammen, was er wollte: Ein einfaches Leben ohne Bürokraten, eine schöne Umgebung und eine schöne,- junge, wie er schamhaft hinzufügte,- Frau, und die Möglichkeit, sich aktiv,- nicht als Konsument, wie er hier weniger schamhaft anmerkte,- mit Kunst, Religion und Wissenschaft beschäftigen zu können. An dieser Stelle kam ihm wieder die wunderschöne Thailänderin aus jenem unbekannten Isaan nicht nur in den klaren Sinn, sondern besetzte auch seine aufgewühlten Gefühle, und er fühlte sich sexy wie ein junger Mann, voll ungeahnter Kräfte. Als er den letzten Aufruf zu seinem Flugzeug nach Berlin hörte, wusste er, wohin er wollte.
Vier Wochen später saß er in einem Flugzeug nach Thailand. Er würde seiner Fantasie-Julia wieder erzählen, was er dort erlebt hat.
Kap. 1 Vorweg-Gedanken
Omnis Thailandia divisa est in partes tres, qui una incolunt Khmer. Ganz Thailand besteht aus drei Teilen, deren einer Khmer-stämmige Bewohner hat. Die beiden anderen Teile haben eine von Laoten bzw. Malaien abstammende Bevölkerung. Genauso wie den Galliern und Karthagern die italienischen Vorfahren in Rom ziemlich merkwürdig vorkamen, wundern sich auch die von den Laoten und Malaien abstammenden Menschen in den Randgebieten Thailands, warum die Leute in Bangkok immer mit Flugzeugen fliegen müssen und statt normal hoher Gebäude Wolkenkratzer-artige Hochhäuser benötigen. Wie einst im alten Rom schauen umgekehrt auch die vermischten Bewohner im Zentralgebiet, also vor allem in Bangkok, lieber auf die Anderen herab und vermeiden eine peinliche Nabelschau, bei der man ihrer eigenen Fehler gewahr werden würde. Immerhin hatten die Römer aber Dolmetscher, durch welche eine gewisse Verständigung mit den Galliern möglich war. Aber die Bewohner von Bangkok und dem Zentralgebiet lehnen die laotische und die malaiische Sprache kategorisch ab, unterdrücken sie und zwingen den dortigen Menschen ihre eigene Sprache auf. Kaum haben jene aber den Bewohnern des Zentralgebietes den Rücken zugekehrt, so fluchen sie in einem unverständlichen Jargon, der absolut nicht nur reines Laotisch oder Malai ist, über ihre großspurigen und ausbeuterischen Hauptstadtbewohner mit gar nicht immer freundlichen Worten.
Nur ein kleiner Teil der Menschen in Bangkok vermag auf Englisch oder ähnlichen Sprachschöpfungen diesem Verhalten Paroli zu bieten. Doch das hat nur für den Außenhandel Bedeutung. Wichtiger, aber von den meisten Menschen der Oberschicht in Bangkok unerkannt, genauso wie einst bei den Römern hinsichtlich der am Limes wohnenden Randbevölkerung ist das Problem der verschiedenen Mentalitäten und regionalen Interessen. Denn durch die Verwendung der aufgezwungenen Zentralsprache bleibt man eben in der Denkweise der in Bangkok lebenden amart, nach kolonial-englischem Sprachgebrauch meist als Elite übersetzt, jedoch eigentlich Machtinhaber bezeichnend. Während die Leute aus dem Randgebieten häufig in Bangkok arbeiten und dadurch die Mentalität der Hauptstadtbewohner gut kennen, kann man in Kreisen besagter Elite ein einsichtiges Verständnis der Lage in den Außengebieten des Landes mit der Lupe suchen. Diese Kenntnisse meinen sie durch den häufig ausbeuterischen und durchaus auch unerfreuliche Begleiterscheinungen habenden Handel erwerben zu können, was aber weitgehend ein gründlicher Irrtum sein dürfte. Denn die Händler kommen meistens nur zu den Märkten und eher kleinen Betrieben und stecken ihre Nase praktisch nie in die völlig anderen Lebensverhältnisse. Ihre Landeskenntnisse lassen sich anhand der in Bangkok erhältlichen Landkarten dokumentieren, welche im allgemeinen jegliche Details vermissen lassen. Was die Mentalitäten betrifft, so vermeiden wir besser dieses Thema.
Leser aus Kreisen der besagten Elite wären an dieser Stelle so erbost, dass sie sofort nach weiter verschärfter Pressezensur rufen würden. Über Bangkok selbst wollen wir an dieser Stelle nicht reden, weil, wie schon gesagt, die öffentliche Nabelschau als unanständig gilt. Lenken wir unseren Blick also für einen Moment auf Süd-Thailand. Dieses Gebiet hat zwei Bevölkerungsgruppen, Buddhisten und Moslems, welche wie eh und je untereinander starke Konflikte haben. Gemeinsam ist beiden Teilen aber, dass diese dort anders als in Nord-Thailand von Europäern erobert worden sind und dass es bis heute keine Wiedergutmachungsgesetze und Rückgaberegelungen für die damals eingenommenen Gebiete gibt. Kein zugereister Besucher wagt dieses Thema zu erwähnen, weil er oder sie wohl fürchtet, dann nicht mehr das Visum zum Besuch der dortigen unterdrückten Bevölkerungsteile zu bekommen, oder sogar wegen angeblicher Einmischung in die Innenpolitik bedroht wird.
Die wirklich kriminelle Unterdrückung und sogar Ausrottung der ursprünglichen dortigen Völker wird heutzutage meist nicht mehr praktiziert. Aber,- und dieses Wort