Wachhäuschen vorbei, an welchem von beiden Seiten her der hohe Schutzzaun rund um das Areal endete.
Keli trottete nun wieder mit ein wenig Abstand hinter Anker her wie ein kleiner Hund hinter seinem Herrchen. Als sie am Sicherheitsschalter vorbeikamen und Anker einem Wachmann seinen Professorenausweis vorlegte, blieb Keli abrupt stehen und verschwand aus Ankers Blickfeld. Der Professor drehte sich verwirrt um. Nach einigen Augenblicken entdeckte er Keli vor einem mit Zierblumen geschmückten und von Moos überwucherten Denkmal und ging schlurfend auf sie zu.
»Keli«, schnaufte Anker laut. »Was ist denn los? Ich kenne gleich in der Nähe eine leckere Strudelbude. Glaub mir, mich kennt man nur an den besten Adressen der Stadt.«
Er schlug sich grinsend mit beiden Händen hörbar auf den gewaltigen Wanst. Keli reagierte nicht auf seine Worte, denn sie war gerade damit beschäftigt, die überwucherten Zeilen am unteren Ende der Statue zu entziffern. Sie bewegte die Lippen und sprach die Wörter fast lautlos in die Luft:
»Dies ist das Denkmal an Dr. Lailac Mondstein, den Gründer der Hochschule von Herbstfeld, Erfinder der Sonnenlichtresorption und Bewahrer des Kaelischen Indexes.
27 V.N. – 29 A.N.
Im Norden liegt die Tugend«
Anker, der neben Keli getreten war, ließ ein langes »Oh hooo« verlauten. »Du interessierst dich für Geschichte? Ich könnte dir wortwörtlich einen ganzen Vortrag über diesen Lailac halten. Obschon man sagen muss – die Sache mit dem Index ist nie bestätigt worden. Aber weil die Regierungsräte so stolz auf unser fortschrittliches Ausbildungssystem sind und seit jeher den anderen Präfekturen ein Vorbild sein wollen, tun sie immer so, als wäre die Legende eine fundierte Begebenheit.«
Keli verstand nur sehr wenig von dem, was Anker da redete. »Was heißt denn V.N. minus A.N.?«, erkundigte sich Keli ahnungslos.
»Hast du das noch nicht in der Schule gehabt? Es bedeutet ›Vor Neuzeit, Ab Neuzeit‹. Der liebe Lailac wurde dementsprechend nicht so alt; genauer gesagt, gerade mal 56. Wenn du willst, kannst du in der Bibliothek gerne mal die Geschichtsbücher der frühen Neuzeit studieren. Keine hübsche Geschichte, was mit Lailac, Mikael und Bao, dem Hundewesen passiert ist – wenn sie denn wahr ist.«
»Und der Kaelistische Index?«
»Kaelischer Index«, korrigierte sie Anker. »Das ist ein Artefakt, von dem niemand so genau weiß, ob es heute noch existiert oder jemals existiert hat. Man nennt ihn auch den ›Unlichtschlüssel von Mikael‹, da die Legenden besagen, dass Urvater ›Mikael McLane‹ – wie er eigentlich richtig hieß – der Zeigefinger abfiel, als er das Unlicht anfassen wollte. Lailac hat Mikaels Finger dann geborgen und mit ihm das Unlicht gebändigt. Danach hat er ihn an einem geheimen Ort versteckt. Er ist bis heute verschollen – so die Legende.«
»Und was ist Unlicht?«
Anker knallte Keli seine große linke Pranke auf die Schulter und sagte geheimnistuerisch: »Das, Mädel, ist eine andere Geschichte. Lass uns jetzt was essen gehen. Ich verhungere noch!« Lachend und mit den Händen auf den Bauch trommelnd, ging Anker von dannen.
Keli schenkte dem Denkmal einen letzten, bewundernden Blick und folgte dem Professor zu den Sicherheitsschranken.
Als sie am Wachhäuschen vorbei waren – Keli brauchte keinen Ausweis, da sie mit einem Professor unterwegs war –, verdrängte die Aussicht auf die breite Straße vorerst Fragen und Missmut aus Kelis Kopf.
Die Lailac-Straße schlängelte sich vor ihren Augen durch zwei kunterbunte Häuserketten, wobei kein Haus dem anderen glich. Allein die Pflanzen und deren Wurzeln, die sich auf den Dächern der Gebäude in all ihrer Farbenpracht präsentierten, verliehen dem Ort eine sehr eigentümliche Aura. Nun wusste Keli auch, was Herbstfeld seinen Namen eingebracht hatte: Der Straßenboden war über und über mit heruntergefallenem Laub bedeckt, was dem Ort eine waldbodenartige Duftnote verlieh. Von allen Seiten waren raschelnde Schritte zu hören, die von den vielen exzentrisch gekleideten Passanten auf der Straße verursacht wurden. Keli machte große Augen beim Anblick der vielen unterschiedlichen Wesen, die durch das knöcheltiefe Laub wateten. In ihrer Heimat Hildenberge gab es nur ganz herkömmliche Menschenwesen: Frauen, Männer und Kinder. In dieser Straße jedoch konnte Keli in vielen Fällen nicht erraten, ob nun eine Frau, ein Mann oder etwas ganz anderes an ihr vorbeiging. Aber sie hatte zunehmend das Gefühl, dass es hier auch keine Rolle spielte. Alle Leute schienen sich so gut zu fühlen und akzeptiert zu sein, wie sie waren. Das lockerte Kelis Gemütszustand etwas auf.
Nach einer Weile raschelnden Marschierens verdeutlichten sich ihre ersten Eindrücke und ließen Keli immer mehr in Staunen geraten. Wie es aussah, war die Lailac-Straße der Mittelpunkt aller Studentenangelegenheiten. Es gab Cafés, Fastfood-Ketten und Kleiderläden, in denen unter anderem die neusten Akademieschals ausgestellt waren, welche die Lernenden stolz wie Umhänge trugen. Hinzu kamen gewaltige, vielstöckige Buchhandlungen und Wesen-Spas, in denen sich laut farbenfrohen Werbetafeln international gesinnte Studenten mit Wesen aus aller Welt in heißen Thermalbädern trafen, um über das Leben und seine Vielfältigkeit zu philosophieren. Und natürlich gab es Pubs, Bars und Clubs, welche für viele der Hauptgrund zu sein schienen, in dieser Gegend überhaupt zu verkehren.
Es war Abend geworden und Laternen in warmen Rot- und Blautönen beleuchteten die Schriftzüge an Restaurants und Bars, vor denen Leute an runden Stehtischen tranken, rauchten und heiter schwatzten. Keli schloss für einen Augenblick die Augen, sog die frische Abendluft ein, die wie in den unterirdischen Wintergärten Hildenberges würzig nach regennassem Erdboden roch und schlug die Augenlider wieder auf.
Sie fühlte sich auf einmal, als hätte sie nicht genug Augen und Ohren, um all die interessanten Ereignisse um sich herum zu erfassen und zu verarbeiten. Nie war sie an einem solchen Ort gewesen. Zweimal in ihrem Leben war sie mit ihren Eltern nach Lichterloh gereist – der Hauptstadt der Präfektur, die ebenfalls Lichterloh hieß. Dazumal war sie aber nur von Hildenberge ins Tal gerutscht, hatte von dort die Wasserbahn nach Lichterloh-City genommen und war dann von Onkel Nonpe abgeholt worden. Viel hatte sie vom Stadtleben damals nicht mitbekommen und Lichterloh hatte sie auch viel zu geräumig in Erinnerung. Hier in Herbstfeld gefiel es ihr deutlich besser. Die farbenfrohe Atmosphäre mit dem heiteren Gesprächspegel und den verschiedenen, berauschenden Gerüchen in der Luft, denen unbedingt nachgegangen werden sollte, hier könnte sich Keli wohlfühlen – wäre das Desaster in meiner Heimat nicht passiert, dachte sie, plötzlich wieder von ihrem Kummer eingeholt. Sie schritten an einer Bar namens »Zur Lauten Stille« vorbei, wo gerade eine Party am Laufen war. Allerlei Wesen mit hohen Biergläsern in ihren Händen, Pfoten und Klauen feierten ausgelassen in und um den Laden herum. Neugierig warf Keli, während sie sich einen Weg durch die Feierwütigen bahnten, einen Blick auf eines der Gesöffe, das vor einer großen, kurzhaarigen Frau mit übergeworfenem purpurfarbenem Schal auf einem Stehtisch stand. Anker drängte sie mit seinem Kugelbauch weiter, wobei sich die Augen der Frau kurz mit denen von Keli trafen. Die Frau, sich von der Musik inspiriert leicht hin- und herwiegend, blinzelte ihr mit roten Wangen wohlgesinnt zu, und schon waren Zwerg und Riese im nächsten Wesenauflauf verschwunden.
»Siebbier«, verkündete Anker lässig. »Dafür bist du noch zu jung, aber das Zeug ist echt lecker. Muss ich zugeben.«
»Siebbier?«
»Jou. Du kippst irgendwelche Früchte oder Kräuter in ein hohes Glas und klemmst das Zeug mit einem kleinen Sieb unten im Glasboden fest. Dann schenkst du dir ein billiges Bier ein und tada: Schon hast du das beste und preiswerteste Studentengebräu aller Zeiten.«
»Oh, das klingt gut.«
Anker warf einen kurzen Seitenblick auf Keli.
»Deine Eltern würden es wahrscheinlich nicht gutheißen, wenn ich dir die Gaumenfreuden der Erwachsenenwelt schmackhaft machte.«
Keli schwieg. Nach einer Weile sagte Anker schließlich: »Es tut mir leid, Keli. Ich hätte deine Eltern nicht erwähnen sollen.«
»Nein, ist schon in Ordnung. Ich habe nur einen gewaltigen Hunger. Das ist alles.«
»Ach, wenn das so ist!