Naema Gabriel

SINUS


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you, Andrräa! (I know: for me, it’se Angelo.)

      Kommen lassen

      „Und jetzt Du.“ „Ich?“ „Mach mal. Wer am Berg anfahren kann, kann wirklich Auto fahren.“ Er zieht die Handbremse an, macht die Musik aus, lässt den Motor laufen, wir steigen aus und tauschen Plätze. Was soll schon passieren. Keine Sau weit und breit, Sonntagmorgen auf dem Land. Hinter uns geht es fünfhundert Meter schnurgerade den Beton-Feldweg bergab. Ich trete die Bremse und löse die Handbremse. „Das Lenkrad brauchst Du jetzt gar nicht.“ Na dann. Ich leg die Hände in den Schoss und atme tief durch. „Jetzt Kupplung treten. Mit dem rechten Fuss die Bremse loslassen und schon mal sachte das Gaspedal berühren.“ Wir rollen nach hinten unten und werden allmählich schneller. „Kupplung kommen lassen...“ Da greift was im Getriebe, wir rollen langsamer und langsamer bis wir stehen: Die Schwerkraft und der Motor machen Armdrücken und sind gleich stark. Ich lass den Motor gewinnen und fahr nach vorne, den Berg hinauf. Ich bin ein absolutes Naturtalent. „Mach’s nochmal.“ Ich fahr noch ein Stückchen weiter den Berg hinauf: mehr Platz zum rückwärts Fallenlassen. Ich trete das Pedal und lass die Schwerkraft machen. „Kupplung kommen lassen, kommen lassen, kommen lassen, genau, so hältst du ihn fest, ohne die Bremse zu benutzen, und jetzt mehr Gas, weniger Kupplung und...“ ich fahre: rückwärts fallen lassen, kommen lassen, hoch den Berg. Fallen lassen, kommen lassen, hoch den Berg… Er hat aufgehört zu reden und kramt im Handschuhfach nach dem Tabak. Er dreht eine Zigarette für sich und eine für mich, zündet beide an und gibt mir eine. Ich häng meinen Arm aus dem Fenster. Es ist perfekt.

      Übern Berg

      Wenn es bei mir bis dreissig noch nicht ausgebrochen ist, dann bin ich übern Berg. Statistisch gesehen. Meine Chancen, es bis dreissig zu schaffen, stehen besser, wenn ich keinen künstlerischen Beruf ergreife. Meine grosse Schwester Franka überlegt sich jetzt, was sie nach dem Abi machen soll, wenn aus ihrem Traumberuf nix wird. Was ist „Schauspielerin minus die Kunst“? Nachrichtensprecherin? – Und ich? Was ist „Künstlerin minus die Kunst“? Bei Mama hat es nicht geholfen, dass sie nur Musiklehrerin geworden ist. Die Tanten haben Berufe, die die Krankheit richtig unterdrücken. Kreativ sind sie am Wochenende. Flöten, Töpfern, Kerzenziehen. Ich kann nicht mal bis zum Abi denken. Ich sehe bis zu den nächsten Ferien, danach kommt Nebel.

      Wochenende

      Ich habe einen nagelneuen Führerschein... und noch kein eigenes Auto. Aber ich habe null Interesse an Alkohol oder Drogen oder Selbstmedikation mit Psychopharmaka. Das führt an den Wochenenden zu einer Win-Win-Situation in meinem Freundeskreis. Wir fahren zusammen in einem Auto irgendwohin, und egal wie spät, wie feucht, wie fröhlich, wie bekifft oder sediert der Samstagabend wird – ich bring immer alle sicher zurück. Wenn ich unterwegs einen Blick durch den Spiegel auf die Szenen in der Rückbank werfe, frag ich mich, ob ich gerade den besten Teil meiner Jugend verpasse. - Keine Ahnung. Ich weiss nur: wenn die Letzten müde tschüs sagen und schlapp die Türen zuschmeissen, schieb ich mein Mixtape rein und bin irgendwie zuhause. Die Autos kann ich immer bis Sonntagabend behalten. Jedes hat seine liebenswerten Eigenheiten: bei dem musst du vorglühen, bei dem ist der Rückwärtsgang hier, die muss vor dem Losfahren erst mal ihr Hinterteil heben, der hat vorne eine durchgehende Sitzbank, der hat zwischen den Vordersitzen eine eigene kleine Ablagebank für deinen Unterarm – und für den deines Beifahrers. Wenn du’s erlaubst. Der hat ne Gangschaltung, wo andere nen Blinker haben, bei dem ist das hier die Hupe. Bei diesem hier machst du zum Schalten ne Bewegung, als würdest du jemanden mit nem Spazierstock erstechen. Sonntagmorgen. Ich werf den Motor an. Meine Mutter steigt ein. Sie sitzt genauso klein im Beifahrersitz wie die letzten Wochen in ihrem Sessel. Sie schaut Richtung Windschutzscheibe wie sonst zum Fernseher. Wir fahrn über Felder und durch den Wald. In den Kurven hält sie sich am Griff über der Türe fest.

      Sinus

      Ich bin Teenager, aber ich mach meiner Familie keine Probleme. Ich hab andere Sorgen. Die Angst, dass meine Mutter sich mehr oder weniger absichtlich aus dem Leben katapultieren könnte, ist bei mir Alltag. Ihre ganz eigenen Gezeiten, die sie regelmässig mal himmelhoch, mal kratertief wirbeln, bringen sie todsicher jedes Mal an einen teuflischen Wendepunkt. Bevor nämlich die Metamorphose von manisch zu depressiv ganz vollbracht ist, tun sich unterschiedliche Facetten meiner beiden Mütter neu zusammen und ergeben eine implosive Mischung. Der Doktor macht einen Strich, das ist die Null-Linie, so: zack! Dann malt er eine Sinuskurve, mit rotem Kuli für „Manie“ oberhalb der Null-Linie und blauem Kuli für „Depression“ unterhalb der Null-Linie. „Die Medikamente“, sagt er, „sollen folgendes bewirken.“ Er legt den Kopf schief wie ein Kind und malt horizontale Striche in Grün mit denen er die Hügel und die Täler der Sinuskurve abhackt. „Schwierig wird es hier“, er malt Kringel um die Stellen, wo die Sinuskurve die Null-Linie ungerührt von oben nach unten überquert. „Da hat der Patient noch den euphorischen Antrieb der Manie, aber schon die Stimmung der Depression. Oder hier:“ (Kringel an der nächsten Kreuzung weiter rechts) „noch die Gedanken der Depression, schon die Kraft der Manie. Da ist statistisch gesehen die Suizidwahrscheinlichkeit am höchsten. Man sollte denken, hier:“ (Kringel am Tiefpunkt der Talkurve) „da ist der Patient ja am depressivsten, aber nein, am höchsten ist die Suizidwahrscheinlichkeit hier: noch die...“ – „JA, JA, JA! Hab‘s ja schon verstanden! – Hatte es vorher schon verstanden, auch ohne Schaubild!“ Meine Welt ist in Ordnung, wenn ich weiss: Mama ist sicher in ihrer Depression gelandet. Endlich mal Ruhe die nächsten paar Wochen. Der Tsunami, den sie am Anfang ihrer letzten Manie ausgelöst hat, ist über uns hinweg getobt. Die Termine der Konzerte, die sie angezettelt hat, sind sang- und klanglos vergangen. Die Liebhaber, gekommen, um sich endlich zu holen, was ihnen versprochen worden war, sind unverrichteter Dinge von der verschlossenen Wohnungstür abgezogen. Die unbezahlten Rechnungen haben die Tanten schwesterlich geteilt und barmherzig beglichen.

      Drittes Gesicht

      Das soll jetzt ihr gesundes, eigenes Gesicht sein, weder manisch noch depressiv? Früher, als sie ihre Tabletten nicht genommen hat, hatte sie zwei Gesichter, das eine strahlend und bei jeder Tageszeit mit Sonnenbrille, wie von ihrem eigenen Licht geblendet. Das andere, aus denselben Teilen zusammengesetzt – Wangen, Stirn, Augen, Nase, Mund – aber schlapp, älter und schmerzlich. Das dritte Gesicht hat sie bekommen, seit sie täglich die Tabletten nimmt. Es ist eine dicke taube Maske, hinter der ihr inneres Aufzieh-Auto immer noch surrt und Ideen produziert, aber der Mund ist schon zu träge, die Zunge schon zu schwer, um den vom Fliessband rollenden Gehirn- Befehlen zu gehorchen. Diese Tabletten sind echte Hämmer. Die Gute-Nacht-Dosis muss sie auf der Bettkante nehmen, so knocked-out wird sie davon. Aber die Heilwirkung kann ich neben den Nebenwirkungen nicht sehen. Manchmal, wenn wir zusammen vor der Glotze sitzen, hält irgendwas sie nicht mehr im Sessel. Ihre Beine trappeln, wie von Geisterhand bewegt, einzeln auf der Stelle. Ihre Arme fliegen wie mit Helium gefüllt nach oben. Die Hände schweben in der Luft, Dirigentenhände in der Stille vor der Musik. Dann bemerkt sie sie und zieht sie erschrocken wieder ein. Beim Essen zittert sie wie eine Oma. Die komplette Gabel-Ladung verliert sie auf dem Weg vom Teller zum Mund. Das würde mich wahnsinnig machen. Aber sie, ohne Ausdruck, trifft mit der leeren Gabel ihren schon längst geöffneten Mund.

      Grüüüüün!

      Allmählich dämmert’s. „Ihr habt mir was in die Kekse gemacht.“ Hannah grinst und hält Lea die Handfläche hin für „gimme five!“ Lea konzentriert sich, trifft fast Hannahs Hand und fällt ihr mit dem verfehlten Schwung giggelnd in die Arme. Ich steck die Hände in die Hosentaschen, dreh mich auf dem Hacken um und lass mich mit dem Hintern an die Ente fallen. Die gibt federnd nach. Der Gehsteig federt unter meinen Turnschuhen mit. Na, geil. „Und wer soll jetzt fahren?“ frag ich die Mädels. „Du musst fahren, wir sind zu bekifft“, sagt Hannah, dreht mir meine Handfläche nach oben und tut den Schlüsselbund von ihrer Mutter rein. Zwischen meinen Fingern baumelt ein Engelanhänger durch. Hannah