»Ach, Mischa, seine Seele hat etwas Stürmisches. Sein Geist liegt gefangen. In ihm lebt eine große, noch nicht ausgereifte Idee. Er ist einer von denen, die nicht nach Millionen gieren, sondern danach, eine Idee zur Reife zu bringen.«
»Das ist literarischer Diebstahl, Aljoschka. Mit diesen Phrasen hast du deinen Starez noch übertroffen. Dieser Iwan hat euch ja ein Rätsel aufgegeben!« rief Rakitin mit unverhohlener Bosheit. Selbst sein Gesicht hatte sich verändert, die Lippen waren schief gezogen. »Dabei ist das Rätsel dumm, es ist gar nichts dabei zu raten. Nimm dein Gehirn ein bißchen zusammen, dann hast du es sofort heraus. Sein Aufsatz ist lächerlich und dumm. Hast du vorhin seine törichte Theorie gehört: Wenn es keine Unsterblichkeit der Seele gibt, so gibt es auch keine Tugend, also ist alles erlaube? Und erinnerst du dich, wie dein Bruder Mitenka dabei ausrief: ›Das werde ich mir merken!‹? Eine verführerische Theorie für Schurken! Aber ich schimpfe, und das ist dumm. Sagen wir lieber nicht Schurken, sondern für knabenhafte Renommierer mit ›unergründlich tiefen Ideen‹. Ein Prahlhans ist er, und der ganze Kern seiner Theorie ist der: Einerseits muß man zugestehen, andererseits muß man bekennen! Seine ganze Theorie ist eine Gemeinheit! Die Menschheit wird in sich selbst die Kraft finden, für die Tugend zu leben, auch ohne den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele! In der Liebe zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird sie diese Kraft finden ...«
Rakitin hatte sich in Feuer geredet und konnte sich kaum noch beherrschen. Aber auf einmal schwieg er, als sei ihm etwas eingefallen.
»Na, genug nun!« sagte er mit einem noch schieferen Lächeln als vorher. »Warum lachst du? Meinst du, daß ich ein Schwätzer bin?«
»Nein, es ist mir nicht in den Sinn gekommen, das zu denken. Du bist klug; aber ... Laß gut sein, ich habe nur so aus Dummheit gelächelt. Ich weiß, warum du hitzig wirst, Mischa. An deinem Eifer merke ich, daß Katerina Iwanowna dir selber nicht ganz gleichgültig ist, Bruder. Ich habe das schon seit langem vermutet, und deshalb kannst du Iwan nicht leiden. Du bist wohl eifersüchtig auf ihn?«
»Und dann habe ich es wohl auch auf das Geld abgesehen? Das fügst du noch hinzu, wie?«
»Nein, von dem Geld sage ich nichts. Ich will dich nicht beleidigen.«
»Ich glaube es dir, weil du es sagst. Aber der Teufel mag wissen, warum ihr alle solch einen Narren an diesem Iwan gefressen habt! Keiner von euch begreift, daß man ihn auch ohne seine Beziehungen zu Katerina Iwanowna nicht lieben kann. Und wofür soll ich ihn auch lieben, hol ihn der Teufel! Er hält es ja für richtig, selbst auf mich zu schimpfen. Warum soll ich nicht berechtigt sein, auch auf ihn zu schimpfen?«
»Ich habe nie gehört, daß er irgend etwas Über dich gesagt hätte, weder Gutes noch Schlechtes; er spricht überhaupt nicht von dir.«
»Ich aber habe gehört, daß er mich vorgestern bei Katerina Iwanowna aus Leibeskräften schlechtgemacht hat. Da sieht man, wie sehr er sich doch für meine Wenigkeit interessiert. Und ich weiß nicht, wer von uns beiden auf den anderen eifersüchtig ist. Er beliebte den Gedanken auszusprechen, wenn ich mich nicht in sehr naher Zukunft entschließe, die Laufbahn eines hohen Klostergeistlichen einzuschlagen und Mönch zu werden, so würde ich unbedingt nach Petersburg fahren und Mitarbeiter bei einer großen Monatsschrift werden, und zwar bestimmt in der Abteilung für Kritik; ich würde etwa zehn Jahre lang schreiben und zu guter Letzt die Monatsschrift selbst übernehmen. Dann würde ich sie selbst redigieren, und zwar ganz sicher in liberaler und atheistischer Richtung mit einem sozialistischen Schimmer, ja sogar mit ein bißchen sozialistischer Politur; aber ich würde dabei auf meiner Hut sein, es mit keiner Partei verderben und den Dummköpfen Sand in die Augen streuen. Das Ende meiner Karriere würde nach deines Bruders Meinung darin bestehen, daß der Schimmer von Sozialismus mich nicht hindern würde, mir von den Abonnementsgeldern ein laufendes Konto anzulegen und mit diesem Geld bei Gelegenheit unter Anleitung irgendeines Juden Geschäfte zu machen. Das würde ich so lange tun, bis ich mir in Petersburg ein großes Haus bauen könnte, um die Redaktion dorthin zu verlegen und die übrigen Etagen zu vermieten. Sogar den Platz für das Haus hat er bestimmt: an der Neuen Steinbrücke über die Newa, die angeblich in Petersburg projektiert wird, von der Litejnaja zur Wyborgskaja ...«
»Ach, Mischa, vielleicht wird das alles genauso geschehen, bis aufs letzte Tüpfelchen!« rief Aljoscha plötzlich; er konnte sich nicht halten und lächelte vergnügt.
»Jetzt werden Sie auch noch sarkastisch, Alexej Fjodorowitsch!«
»Nein, nein, ich mache nur Spaß, nimm es mir nicht übel! Ich habe ganz andere Dinge im Kopf. Aber gestatte mir eine Frage: Wer konnte dir solche Einzelheiten mitteilen, von wem hast du sie gehört? Du konntest doch nicht selber bei Katerina Iwanowna gewesen sein, als er über dich sprach?«
»Ich selbst war nicht da, aber Dmitri Fjodorowitsch war da, und ich habe es mit eigenen Ohren von Dmitri Fjodorowitsch gehört, das heißt, genaugenommen hat er es mir nicht erzählt, sondern ich habe es mit angehört, natürlich unfreiwillig, ich saß nämlich in Gruschenkas Schlafzimmer und konnte nicht hinausgehen, solange Dmitri Fjodorowitsch im Nebenzimmer war.«
»Ach ja, ich hatte ganz vergessen, sie ist ja mit dir verwandt ...«
»Verwandt? Diese Gruschenka mit mir verwandt?« schrie Rakitin, der ganz rot geworden war. »Bist du verrückt geworden? Dein Gehirn ist wohl nicht in Ordnung?«
»Ist sie nicht mit dir verwandt? Ich habe es doch gehört ...«
»Wo kannst du das gehört haben? Nein, ihr Herren Karamasow spielt euch als vornehme alte Edelleute auf, und dabei lief dein Vater als Possenreißer herum, um sich an fremden Tischen zu sättigen, froh war er, wenn man ihn aus Barmherzigkeit in der Küche sitzen ließ. Ich bin zwar nur ein Popensohn und euch Edelleuten gegenüber ein Dreck; trotzdem dürft ihr mich nicht munter drauflos beleidigen. Auch ich habe meine Ehre, Alexej Fjodorowitsch! Ich kann nicht mit Gruschenka, einer öffentlichen Dirne, verwandt sein! Das bitte ich zu begreifen!« Rakitin war sehr aufgebracht.
»Um Gottes willen, sei mir nicht böse, ich konnte das doch nicht ahnen! Außerdem, warum nennst du sie eine öffentliche ... ? Ist sie so eine?« Aljoscha wurde plötzlich rot. »Ich wiederhole, ich habe gehört, sie sei mit dir verwandt. Du gehst oft zu ihr und hast mir selbst gesagt, du hättest mit ihr kein Verhältnis ... Ich habe nie gedacht, daß du sie so verachtest. Verdient sie das wirklich?«
»Wenn ich sie besuche, kann ich dafür meine Gründe haben. Das mag dir genügen. Was die Verwandtschaft anlangt, so wird dein Bruder oder gar dein Vater selbst sie dir vielleicht bald als Verwandte an den Hals hängen, aber nicht mir. Na, da sind wir ja am Ziel. Geh lieber gleich in die Küche! Oho! Was gibt es denn da? Was geht hier vor? Sind wir zu spät gekommen? Sie können doch nicht schon mit dem Mittagessen fertig sein? Oder haben die Karamasows da wieder etwas angerichtet? Gewiß wird es so sein. Da kommt dein Vater, und hinter ihm Iwan Fjodorowitsch. Sie kommen aus der Zelle des Abtes gestürmt. Vater Isidor ruft ihnen von der Haustür etwas nach. Und auch dein Vater schreit und fuchtelt mit den Armen, offenbar schimpft er. Und da ist auch schon Miussow in seinem Wagen davongefahren! Siehst du, da fährt er. Und da läuft auch der Gutsbesitzer Maximow. Sicher hat es einen Skandal gegeben, und das Mittagessen hat gar nicht stattgefunden! Sie werden den Abt doch nicht verprügelt haben? Oder sind sie am Ende selbst verprügelt worden? Das könnte nichts schaden!«
Rakitins Ausrufe waren nicht unbegründet. Es hatte sich tatsächlich ein Skandal zugetragen, ein unerhörter, unerwarteter Skandal. Alles war »intuitiv« geschehen.
8. Der Skandal
Miussow und Iwan Fjodorowitsch hatten soeben das Haus des Abtes betreten, da vollzog sich in Pjotr Alexandrowitsch, einem grundanständigen, feinfühligen Menschen, ein eigenartiger, nobler Denkprozeß: er begann sich seines Zorns zu schämen. Er hätte, das fühlte er, diesen armseligen Fjodor Pawlowitsch im stillen eigentlich nur verachten sollen, anstatt in der Zelle des Starez seine Kaltblütigkeit zu verlieren und außer sich zu geraten. ›Wenigstens können die Mönche nichts dafür!‹ sagte er sich auf den Stufen vor der Haustür des Abtes. ›Und wenn ich hier anständigen Leuten begegne – Vater Nikolai, der Abt, ist wohl