Fjodor Dostojewski

Die Brüder Karamasow


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einem Auftrag zum Vater zu schicken und dann zu ihr, zu Katerina Iwanowna! Damit ich auf diese Weise mit ihr wie auch mit dem Vater zu Ende komme. Einen Engel wollte ich schicken. Ich könnte ja jeden beliebigen schicken, aber ich wollte einen Engel schicken. Und da bist du nun von selber auf dem Weg zu ihr und zum Vater!«

      »Wolltest du mich wirklich hinschicken?« entfuhr es Aljoscha, und auf seinem Gesicht drückte sich Schmerz aus.

      »Warte mal, du hast es gewußt. Ich sehe, daß du alles mit einem Schlag begriffen hast. Aber schweig, schweig vorläufig! Bedauere mich nicht und weine nicht!«

      Dmitri Fjodorowitsch stand auf, dachte nach und hielt den Finger an die Stirn. »Sie selbst hat dich rufen lassen. Sie hat dir einen Brief oder sonst etwas geschrieben. Deshalb wolltest du zu ihr gehen. Denn sonst wärst du noch nicht gegangen?«

      »Da ist das Billett«, sagte Aljoscha und zog es aus der Tasche. Mitja überflog es.

      »Und du bist hinten herum gegangen! O ihr Götter! Ich danke euch, daß ihr seine Schritte hinten herum gelenkt habt und er gerade auf mich gestoßen ist – wie im Märchen das goldene Fischchen auf den alten dummen Fischer. Hör zu, Aljoscha! Hör zu, Bruder! Jetzt werde ich dir alles sagen. Denn irgend jemandem muß ich es doch sagen, ich muß. Meinem Schutzengel im Himmel habe ich es schon gesagt, aber ich muß es auch einem Engel auf Erden sagen. Du bist ein Engel auf Erden. Du wirst mich anhören, du wirst dein Urteil fällen, und du wirst mir verzeihen. Und das ist mir eben ein Bedürfnis. Jemand, der über mir steht, soll mir verzeihen. Höre. Wenn zwei Menschen sich plötzlich von allem Irdischen losreißen und in ungewöhnliche Regionen fliegen, oder wenigstens der eine von ihnen, und wenn dann dieser eine vorher zu dem anderen kommt und sagt: Tu für mich das und das, etwas, worum man niemand bittet, worum man nur auf dem Sterbebett bitten darf – wird dieser andere seine Bitte unbedingt erfüllen? Wenn er sein Freund, sein Bruder ist?«

      »Ich würde sie erfüllen. Aber sag, worum es sich handelt, und sag es schnell!« erwiderte Aljoscha.

      »Schnell. Hm. Nicht so eilig, Aljoscha. Du hast es eilig und beunruhigst dich. Jetzt ist kein Grund zur Eile. Jetzt ist die Welt auf eine neue Straße gekommen. Schade, Aljoscha, daß du mit deinem Denken nicht bis zur Begeisterung angelangt bist! Doch, was rede ich da? Du, du wärst nicht dahin gelangt? Was rede ich da, ich Tölpel!

      Edel sei der Mensch!

      Von wem ist dieser Vers?«

      Aljoscha beschloß abzuwarten. Er begriff, es war seine einzige Aufgabe, jetzt tatsächlich hier zu sein. Mitja dachte einen Augenblick nach, dabei stützte er sich mit dem Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die hohle Hand. Beide schwiegen.

      »Ljoscha«, sagte Mitja, »du bist der einzige, der mich nicht auslachen wird! Ich möchte meine Beichte mit Schillers Hymne ›An die Freude‹ beginnen. Aber ich kann nicht Deutsch, deutsch kenne ich nur die Überschrift ›An die Freude‹. Glaube nicht, daß ich betrunken bin und deshalb allerlei zusammenschwatze. Ich bin ganz und gar nicht betrunken. Kognak ist Kognak, aber ich brauche zwei Flaschen, um betrunken zu werden. Und ich habe noch keine Viertelflasche getrunken und bin nicht betrunken. Sondern ich habe einen Entschluß für mein ganzes Leben gefaßt! Sei unbesorgt, ich gerate nicht ins Salbadern, ich werde sachlich reden und sofort zur Sache kommen. Ich werde dir schon nicht auf die Nerven gehen! Warte mal, wie war das doch ...«

      Er hob den Kopf, überlegte und begann auf einmal begeistert zu rezitieren:

      »Scheu in des Gebirges Klüften

      barg der Troglodyte sich;

      der Nomade ließ die Triften

      wüste liegen,wo er strich.

      Mit dem Wurfspieß, mit dem Bogen

      schritt der Jäger durch das Land;

      weh dem Fremdling, den die Wogen

      warfen an den Unglücksstrand!

      Und auf ihrem Pfad begrüßte,

      irrend nach des Kindes Spur,

      Ceres die verlaßne Küste.

      Ach, da grünte keine Flur!

      Daß sie hier vertraulich weile,

      ist kein Obdach ihr gewährt;

      keines Tempels heitre Säule zeuge,

      daß man Götter ehrt.

      Keine Frucht der süßen Ähren

      lädt zum reinen Mahl sie ein;

      nur auf gräßlichen Altären

      dorret menschliches Gebein.

      Ja, so weit sie wandernd kreiste,

      fand sie Elend überall,

      und in ihrem großen Geiste

      jammert sie des Menschen Fall.«

      Mitja schluchzte plötzlich auf und ergriff Aljoschas Hand.

      »Lieber Bruder, lieber Bruder, auch jetzt ist Elend überall, Elend überall! Furchtbar viel hat der Mensch auf Erden zu erdulden, furchtbar viel Unglück muß er durchmachen! Glaub nicht, daß ich nur eine Knechtsseele im Offiziersrang bin und weiter nichts tue als Kognak trinken und sumpfen. Nein, Bruder, ich denke fast nur an diesen erniedrigten Menschen, wenn ich damit nicht lüge. Gott gebe, daß ich jetzt nicht lüge und mich nicht selber lobe. Ich denke an diesen Menschen deswegen, weil ich selbst ein solcher Mensch bin.

      Daß der Mensch zum Menschen werde,

      stift' er einen ew'gen Bund

      gläubig mit der frommen Erde,

      seinem mütterlichen Grund.

      Nun, siehst du, das ist die Schwierigkeit: wie soll ich mit der Erde einen ewigen Bund stiften? Ich küsse die Erde doch nicht, ich kann mir ihretwegen nicht die Brust aufreißen, soll ich etwa Bauer werden oder Hirt? Ich gehe so dahin und weiß nicht, bin ich in Kot und Schande geraten oder in Licht und Freude? Da steckt eben das Unglück: alles auf der Welt ist ein Rätsel! Und wenn ich im allerallertiefsten Sumpf der Ausschweifung versank – das ist bei mir oft genug vorgekommen –, dann habe ich immer dieses Gedicht von der Ceres und dem Menschen gelesen. Hat es mich gebessert? Nein, niemals! Weil ich ein Karamasow bin. Weil ich, wenn ich schon in den Abgrund stürze, das geradezu tue, mit dem Kopf nach unten und den Fersen nach oben. Weil ich sogar damit zufrieden bin, daß ich in einer so unwürdigen Haltung falle und das als eine Schönheit an mir betrachte. Und mitten in dieser Schmach sage ich auf einmal die Hymne an die Freude auf. Mag ich auch verflucht sein, mag ich auch ein niedriger, gemeiner Mensch sein – auch ich möchte den Saum des Gewandes küssen, das meinen Gott umhüllt! Und mag ich auch zur gleichen Zeit dem Teufel folgen, so bin ich doch auch dein Sohn, Herr, und liebe dich und fühle die Freude, ohne die die Welt nicht stehen und existieren kann.

      Freude heißt die starke Feder

      in der ewigen Natur.

      Freude, Freude, treibt die Räder

      in der großen Weltenuhr.

      Blumen lockt sie aus den Keimen,

      Sonnen aus dem Firmament,

      Sphären rollt sie aus den Räumen,

      die des Sehers Rohr nicht kennt.

      Freude trinken alle Wesen

      an den Brüsten der Natur;

      alle Guten, alle Bösen

      folgen ihrer Rosenspur.

      Küsse gab sie uns und Reben,

      einen Freund, geprüft im Tod;

      Wollust ward dem Wurm gegeben,

      und der Cherub steht vor Gott.

      Aber genug der Verse Mir sind die Tränen gekommen, aber laß mich weinen! Mag das eine Dummheit sein, über die alle lachen – du wirst nicht lachen. Dir brennen ja auch die Augen. Genug der Verse! Ich will dir jetzt von den ›Würmern‹ erzählen,