Fjodor Dostojewski

Die Brüder Karamasow


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lieben die Offenherzigkeit, merk dir das. Sie war noch dazu ein junges Mädchen, und das machte mir besonderen Spaß. Und noch eins: Ich konnte sie unmöglich als ›Gnädiges Fräulein‹ anreden. Sie wohnte mit ihrer Tante bei dem Vater, und beide Frauen stellten sich in einer Art freiwilliger Selbsterniedrigung niemals mit der übrigen Gesellschaft auf eine Stufe. Alle hatten Agafja Iwanowna gern und brauchten sie, denn sie war als Schneiderin geradezu ein Talent, Geld verlangte sie für ihre Dienste nicht, sie tat es aus Freundlichkeit. Wenn man ihr etwas gab, lehnte sie es nicht ab. Der Oberstleutnant, zugegeben, der Oberstleutnant war eine der ersten Personen in unserer Stadt. Er lebte auf großem Fuß, empfing die ganze Stadt, gab Soupers und Tanzgesellschaften. Als ich in das Bataillon eintrat, redete das ganze Städtchen davon, die zweite Tochter des Oberstleutnants, ein sehr schönes Mädchen, hätte den Kursus in einem aristokratischen Erziehungsinstitut in der Hauptstadt beendet und käme nun bald zurück. Diese zweite Tochter, die schon aus der zweiten Ehe des Oberstleutnants stammt, das ist Katerina Iwanowna. Die zweite, schon verstorbene Frau des Oberstleutnants kam aus einer vornehmen Generalsfamilie, obgleich sie, wie ich glaubwürdig erfuhr, ihrem Mann ebenfalls kein Geld mitbrachte. Sie hatte eben nur ihre Verwandtschaft, weiter nichts, höchstens noch irgendwelche Aussichten auf Erbschaften, aber nichts Bares. Trotzdem geriet unser ganzes Städtchen in Bewegung, als das Fräulein ankam – nur zu Besuch, nicht für immer. Unsere vornehmsten Damen, zwei Exzellenzen, die Frau eines Obersten und nach ihrem Beispiel auch alle anderen interessierten sich sogleich für sie, rissen sich förmlich um sie und suchten ihr Vergnügungen zu verschaffen. Sie war die Königin der Bälle. Picknicks wurden arrangiert und lebende Bilder2 zugunsten irgendwelcher Gouvernanten. Ich schwieg, setzte mein liederliches Leben fort und leistete mir zu eben diesem Zeitpunkt einen Streich, über den die ganze Stadt aus dem Häuschen geriet. Ich sah, wie sie mich einmal mit ihrem Blick maß, das war beim Batteriechef. Ich ließ mich ihr damals nicht vorstellen: ›Ich mache mir nichts aus deiner Bekanntschaft!‹ sollte das heißen. Erst einige Zeit später ließ ich mich vorstellen, ebenfalls auf einer Abendgesellschaft. Ich wollte ein Gespräch mit ihr anknüpfen, sie sah mich kaum an und preßte verächtlich die Lippen zusammen. ›Warte nur‹ dachte ich, ›ich werde mich rächen!‹ Ich war damals in solchen Fällen meist furchtbar flegelhaft und fühlte das selbst. Die Hauptsache war, ich fühlte, Katenka war kein harmloses Institutsdämchen, sondern eine charakterfeste Persönlichkeit, stolz und tatsächlich tugendhaft und vor allem klug und gebildet – und ich war weder das eine noch das andere. Du glaubst, ich wollte ihr einen Heiratsantrag machen? Keineswegs. Ich wollte mich einfach dafür rächen, daß ich so ein toller Kerl war und sie das nicht fühlte. Einstweilen aber fuhr ich in meinem Treiben fort. Schließlich steckte mich der Oberstleutnant drei Tage in Arrest. Ausgerechnet da schickte mir der Vater sechstausend Rubel, nachdem ich formell auf alles verzichtet hatte, das heißt, ich hatte erklärt, wir seien quitt, ich würde nichts mehr fordern. Ich verstand damals von der ganzen Geschichte nichts, Bruder! Bis zu meiner Ankunft in dieser Stadt, ja vielleicht bis heute habe ich von allen meinen Geldstreitigkeiten mit dem Vater nichts begriffen. Aber hol's der Teufel, davon nachher. Nachdem ich diese sechstausend Rubel erhalten hatte, erfuhr ich plötzlich durch den Brief eines Freundes etwas höchst Interessantes, nämlich daß man höheren Ortes mit unserem Oberstleutnant unzufrieden sei, daß man vermute, seine Kasse sei nicht in Ordnung, kurz, daß seine Feinde dabei seien, ihm einen Strick zu drehen. Und der Divisionskommandeur kam auch wirklich angereist und wusch ihm ganz gehörig den Kopf. Bald darauf legte man ihm nahe, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Ich will dir nicht erzählen, wie sich das alles im einzelnen zugetragen hat – er hatte eben tatsächlich seine Feinde. In der Stadt trat jedenfalls plötzlich eine außerordentliche Abkühlung gegen ihn und seine ganze Familie ein, alle zogen sich auf einmal von ihnen zurück. Da führte ich meinen ersten Streich aus. Ich sagte zu Agafja Iwanowna, mit der ich immer ein freundschaftliches Verhältnis unterhalten hatte: ›Ihrem Papa fehlen also viertausendfünfhundert Rubel Staatsgelder?‹ – ›Was sagen Sie da? Wie kommen Sie zu einer solchen Behauptung? Vor kurzem war der General hier, da war doch alles Geld vorhanden.‹ – ›Damals ja, aber jetzt nicht!‹ Sie bekam einen furchtbaren Schreck. ›Machen Sie mir nicht Angst! Ich bitte Sie, von wem haben Sie das gehört?‹ – ›Beunruhigen Sie sich nicht‹, erwiderte ich. ›Ich werde es niemandem sagen. Sie wissen ja, daß ich in solchen Dingen stumm wie ein Grab bin. Aber ich wollte Ihnen sozusagen für alle Fälle nur noch eines sagen: Wenn Ihrem Papa die viertausendfünfhundert Rubel abverlangt werden und sich herausstellt, daß er sie nicht hat, dann lassen Sie es, bitte, nicht dazu kommen, daß er vor Gericht gestellt und auf seine alten Tage zum Gemeinen degradiert wird, schicken Sie lieber Ihr Institutsfräulein heimlich zu mir! Ich habe gerade Geld bekommen, ich werde gern viertausend Rubel geben und das Geheimnis wie ein Heiligtum hüten ...‹ – ›Ach, was sind Sie für ein Schuft!‹ So drückte sie sich aus. ›Was sind Sie für ein dreckiger Schuft! Wie können Sie sich unterstehen, so etwas zu sagen!‹ Sie ging empört weg, und ich rief ihr noch einmal nach, das Geheimnis würde heilig und unverletzlich bewahrt. Die beiden Frauen, Agafja und ihre Tante, zeigten sich, wie ich im voraus bemerken will, in dieser ganzen Geschichte als wahre Engel. Nur vergötterten sie geradezu die stolze Schwester Katja. Sie erniedrigten sich vor ihr und waren ihre Dienstboten. Agafja erzählte ihr trotzdem von unserem Gespräch. Ich erfuhr das später ganz genau. Sie verheimlichte es nicht, und so hatte ich es auch gewollt.

      Auf einmal traf der neue Major ein, um das Bataillon zu übernehmen. Er übernahm es. Der alte Oberstleutnant wurde plötzlich krank, konnte sich nicht bewegen, saß zwei Tage lang zu Hause und gab die Staatsgelder nicht ab. Unser Arzt Krawtschenko versicherte, er sei tatsächlich krank. Ich wußte jedoch insgeheim schon lange aus guter Quelle, daß das Geld nach einer Revision seitens der vorgesetzten Dienststelle jedesmal für gewisse Zeit verschwand und so schon seit vier Jahren. Der Oberstleutnant lieh es einem zuverlässigen Mann, einem hiesigen Kaufmann mit goldener Brille und Bart, einem alten Witwer, namens Trifonow. Dieser fuhr damit auf den Jahrmarkt, setzte es dort um, wie es ihm paßte, und erstattete das Geld dem Oberstleutnant wenig später wieder zurück; zugleich brachte er ihm ein hübsches Geschenk mit und auch Prozente. Diesmal gab Trifonow nach seiner Rückkehr vom Jahrmarkt nichts zurück; das erfuhr ich zufällig von einem halbwüchsigen Bengel, dem widerwärtigen Söhnchen Trifonows, dem liederlichsten Bürschchen, das die Welt je hervorgebracht hat. Der Oberstleutnant stürzte zu ihm. ›Ich habe nie etwas von Ihnen erhalten und durfte auch gar nichts erhalten!‹ war die Antwort. Na, so saß denn unser Oberstleutnant zu Hause, ein Handtuch um den Kopf gewickelt, und alle drei Frauen legten ihm Eis an die Schläfen. Auf einmal erschien eine Ordonnanz mit dem Befehlsbuch: Das Staatsgeld sei sofort abzuliefern, unverzüglich, innerhalb von zwei Stunden! Er unterschrieb (ich habe die Unterschrift später gesehen), stand auf, angeblich um sich seine Uniform anzuziehen, lief in sein Schlafzimmer, nahm sein doppelläufiges Jagdgewehr, lud es, zog den Stiefel vorn rechten Fuß, stemmte das Gewehr gegen die Brust und suchte mit dem Zeh nach dem Hahn. Agafja jedoch erinnerte sich an meine Worte, schöpfte Verdacht, schlich ihm nach, sah alles noch rechtzeitig. Sie stürzte hinein, warf sich von hinten auf ihn, umschlang ihn, und das Gewehr entlud sich nach oben, in die Decke, ohne jemand zu verwunden. Die übrigen kamen herbeigelaufen, nahmen ihm das Gewehr weg und hielten ihm die Hände fest. Dies habe ich später in allen Einzelheiten erfahren ...

      Ich befand mich gerade zu Hause. Es war gegen Abend, und ich wollte gerade ausgehen. Ich hatte mich angezogen, frisiert und parfümiert und griff nach meiner Mütze, als sich plötzlich die Tür öffnete und Katerina Iwanowna vor mir, in meiner Wohnung, stand.

      Es passieren manchmal sonderbare Dinge. Niemand auf der Straße hatte damals bemerkt, daß sie zu mir ging, so daß dies in der Stadt völlig unbekannt blieb. Ich wohnte bei zwei steinalten Beamtenwitwen, die auch die Aufwartung bei mir verrichteten. Sie hatten vor mir großen Respekt, gehorchten mir in allem und schwiegen, wenn ich es befahl, wie Bordsteinkanten ...

      Ich begriff natürlich sofort. Sie kam herein und sah mir ins Gesicht; ihre dunklen Augen blickten entschlossen, ja sogar kühn, aber auf den Lippen und um sie herum lag ein Ausdruck von Unentschlossenheit, das sah ich.

      ›Meine Schwester hat mir gesagt, Sie würden viertausendfünfhundert Rubel geben, wenn ich sie ... selber abhole. Ich bin gekommen ... Geben Sie das Geld!‹ Sie konnte es nicht länger ertragen, die Luft blieb ihr weg, ihre Angst wuchs, die Stimme versagte ihr, und die Mundwinkel und die Linien um die Lippen zuckten