Sie doch selbst, Grigori Wassiljewitsch«, fuhr Smerdjakow ruhig und gemessen fort. Er war sich seines Sieges bewußt, übte aber gewissermaßen Großmut mit dem geschlagenen Gegner. »Überlegen Sie doch selbst, Grigori Wassiljewitsch! Es steht doch in der Heiligen Schrift geschrieben:,Wenn ihr Glauben habt auch nur von der Größe eines kleinen Körnchens und dann zu dem Berg sagt, er solle sich ins Meer begeben, so wird er das ohne Zaudern auf euren Befehl hin tun.‹ Nun gut, Grigori Wassiljewitsch, wenn ich ein Ungläubiger bin und Sie ein solcher Gläubiger, daß Sie mich ständig beschimpfen, dann versuchen Sie doch selbst einmal, diesem Berg zu befehlen, er soll sich zwar nicht gleich, ins Meer – bis zum Meer ist es recht weit –, aber doch wenigstens in das übelriechende Flüßchen hinter unserem Garten begeben. Sie werden selber sehen, daß sich nichts von der Stelle bewegt, sondern alles in der bisherigen Ordnung und dem bisherigen Zusammenhang bleibt, mögen Sie auch noch so viel schreien. Das bedeutet aber doch, daß auch Sie, Grigori Wassiljewitsch, nicht richtig glauben, sondern statt dessen nur andere beschimpfen. Und wenn man außerdem in Betracht zieht, daß in unserer Zeit niemand von den höchsten Persönlichkeiten bis hinab zum niedrigsten Bauer, Berge ins Meer schieben kann, vielleicht außer einem oder höchstens zwei Menschen auf der ganzen Erde, und auch die leben, auf die Rettung ihrer Seele bedacht, wahrscheinlich irgendwo in der ägyptischen Wüste, wo man sie überhaupt nicht finden kann – wenn es sich also so verhält, wenn alle übrigen sich als Ungläubige erweisen, wird Gott der Herr dann alle übrigen, das heißt die Bevölkerung der ganzen Erde außer jenen beiden Einsiedlern, verfluchen und trotz seiner allbekannten Barmherzigkeit keinem von ihnen verzeihen? Also hoffe auch ich, daß mir, sollte auch ich einmal gezweifelt haben, verziehen wird, wenn ich Tränen der Reue vergieße.«
»Halt!« kreischte Fjodor Pawlowitsch auf dem Höhepunkt des Entzückens. »Du nimmst also an, daß es zwei Menschen gibt, die Berge versetzen können? Iwan, notiere dir das, schreib es dir auf! Darin zeigt sich der ganze Russe!«
»Sie haben durchaus recht, das ist ein charakteristischer Zug im Glauben des Russen«, stimmte Iwan Fjodorowitsch mit beifälligem Lächeln zu.
»Du stimmst zu! Also muß es sich so verhalten, wenn sogar du zustimmst! Aljoschka, das ist doch richtig? Das ist doch ein echt russischer Glaube?«
»Nein, Smerdjakow hat überhaupt keinen russischen Glauben« antwortete Aljoscha ernsthaft und in festem Ton.
»Ich rede nicht von seinem Glauben. Ich rede von dem charakteristischen Zug, von den beiden Einsiedlern. Nur von einem kleinen charakteristischen Zug! Das ist doch wohl echt russisch, echt russisch!«
»Ja, dieser Zug ist sehr russisch«, bestätigte Aljoscha lächelnd.
»Dein Ausspruch ist einen Dukaten wert, Eselin! Ich werde dir noch heute einen schicken. Aber was du sonst gesagt hast, ist Unsinn, Unsinn, Unsinn! Du mußt wissen, du Dummkopf, daß wir hier alle nur aus Leichtsinn ungläubig sind. Weil wir keine Zeit haben. Erstens sind uns die Geschäfte über den Kopf gewachsen, und zweitens gab Gott uns zu wenig Zeit. Er gab dem Tag nur vierundzwanzig Stunden, so daß man nicht einmal ordentlich ausschlafen, geschweige denn bereuen kann. Du aber hast vor den Peinigern deinen Glauben zu einer Zeit verleugnet, wo du an nichts zu denken hattest als an den Glauben, wo du den Glauben erst recht hättest zeigen müssen! Ich meine, das stimmt so, mein Lieber, nicht wahr?«
»Es wird wohl so stimmen. Aber bedenken Sie, Grigori Wassiljewitsch, gerade dadurch wird meine Ansicht noch bestärkt. Hätte ich damals gehörig an die heilige Wahrheit geglaubt, wäre es in der Tat Sünde gewesen, die Foltern nicht um des Glaubens willen auf mich zu nehmen, sondern zum heidnischen Glauben Mohammeds überzugehen. Aber zu Foltern wäre es dann gar nicht gekommen. Ich hätte ja in jenem Moment bloß zum Berg zu sagen brauchen: Beweg dich und erdrück den Peiniger. Er hätte sich dann in Bewegung gesetzt und ihn augenblicklich wie eine Schabe zerquetscht, ich aber wäre, Gott preisend und lobsingend, davongegangen, als ob nichts geschehen wäre. Doch wenn ich das alles versucht und den Berg aufgefordert hätte, diese Peiniger zu erdrücken, und er hätte sie nicht erdrückt – sagen Sie selbst, wie hätte ich da nicht zweifeln sollen, und noch dazu in einer so furchtbaren Stunde der Todesangst? Wüßte ich doch ohnehin, daß ich das Himmelreich nicht voll erlangen würde, denn der Berg hätte sich nicht in Bewegung gesetzt, Beweis genug, daß man meinem Glauben dort nicht recht traute und daß mich in jener Welt keine besonders große Belohnung erwartete – warum sollte ich mir da obendrein nutzlos die Haut abziehen lassen? Selbst wenn sie mir die Haut bis zur Hälfte des Rückens abziehen, der Berg würde sich auch dann auf mein Wort oder auf mein Geschrei hin nicht in Bewegung setzen. In so einem Augenblick können einem nicht nur Zweifel kommen, man kann sogar vor Angst den Verstand verlieren, so daß das Überlegen überhaupt unmöglich wird. Inwiefern mache ich mich also besonders schuldig, wenn ich wenigstens meine Haut rette, wo ich von etwaiger Standhaftigkeit weder in dieser noch in jener Welt einen Vorteil oder einen Lohn zu erwarten habe? Also hoffe ich zuversichtlich auf Gottes Barmherzigkeit und Vergebung ...«
8. Beim Kognak
Der Streit war zu Ende. Aber seltsam, Fjodor Pawlowitsch, der anfangs so vergnügt gewesen war, wurde plötzlich verdrießlich. Er machte ein finsteres Gesicht und trank sein Kognakgläschen aus; er hatte schon mehr als genug getrunken.
»Schert euch hinaus, ihr Jesuiten!« schrie er die Diener an. »Mach, daß du hinauskommst, Smerdjakow! Den versprochenen Dukaten schicke ich dir noch heute, aber jetzt geh! Weine nicht Grigori, geh zu Marfa, sie wird dich trösten und zu Bett bringen. Die Kanaillen lassen einen nach Tische doch nicht ruhig sitzen«, räsonierte er verärgert, als sich die Diener auf seinen Befehl sofort entfernt hatten. »Smerdjakow kommt jetzt immer beim Essen angeschlichen. Du bist ihm so interessant, womit hast du ihn denn geködert?« fügte er, zu Iwan Fjodorowitsch gewandt hinzu.
»Mit gar nichts«, antwortete dieser. »Er ist auf den Einfall gekommen, mich zu verehren. Er ist eine Bedientenseele, eine Knechtsseele. Kanonenfutter für den Fortschritt, sobald die Zeit dafür gekommen ist!«
»Für den Fortschritt?«
»Es wird andere und bessere Kämpfe geben, aber auch solche. Zuerst wird es solche geben, und nach ihnen bessere.«
»Und wann wird die Zeit kommen?«
»Eine Rakete wird aufflammen, aber vielleicht nicht zu Ende brennen. Das niedere Volk hört einstweilen noch nicht gern auf die Bouillonköche.«
»Ja, ja, mein Lieber, Bileams Eselin denkt und denkt, und der Teufel weiß, wo sie hindenkt.«
»Sie sammelt Gedanken«, sagte Iwan lächelnd. »Siehst du, ich weiß, er kann auch mich nicht leiden, so wenig wie alle anderen und wie dich, obgleich du meinst, er sei auf den Einfall gekommen, dich zu verehren. Und nun zu Aljoschka: Aljoschka verachtet er. Aber er stiehlt nicht, das ist das Gute an ihm. Er ist kein Klatschmaul, er schweigt, er trägt keinen Streit aus dem Haus und bäckt famose Fischpasteten. Aber hol‹ ihn trotz alledem der Teufel! Ist er's denn wert, daß man so viel von ihm spricht?«
»Wert ist er's allerdings nicht.«
»Und was die Gedanken betrifft, die er im stillen aussinnt, so muß man den russischen Bauern im allgemeinen mit Ruten peitschen. Das habe ich immer gesagt. Unsere Bauern sind Spitzbuben, sie verdienen nicht, daß man sie bedauert. Es ist ein Glück, daß sie auch jetzt manchmal noch verprügelt werden. Unser russisches Vaterland ist stark durch die Birke. Holzt man die Birkenwälder ab, geht Rußland zugrunde. Ich stehe auf der Seite der Klugen. Wir haben aus Klugheit aufgehört, die Bauern zu verprügeln, sie jedoch prügeln sich selbst weiter. Und sie tun gut daran. Mit dem Maß, mit dem man mißt, wird man wieder gemessen, oder so ähnlich. Kurz, es wird einem alles vergolten. Rußland ist eine Schweinerei. Wenn du wüßtest, mein Freund, wie ich Rußland hasse! Das heißt, nicht Rußland, sondern all diese Laster ... Meinetwegen auch Rußland. Tout cela, c'est de la cochonnerie1. Weißt du, was ich liebe? Den Esprit!«
»Sie haben schon wieder ein Glas ausgetrunken. Sie sollten aufhören.«
»Warte ein bißchen. Ich trinke noch eins und dann noch eins, und dann mache ich Schluß. Nein, halt mal, du hast mich unterbrochen. In Mokroje sprach ich