Fjodor Dostojewski

Die Brüder Karamasow


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blonden, rotbäckigen Jungen in einer schwarzen Jacke und sagte: »Als ich noch so einen Bücherbeutel trug wie ihr, hatten wir ihn auf der linken Seite, um mit der rechten Hand gleich hinfassen zu können. Ihr tragt euren Bücherbeutel rechts, das muß doch unbequem sein?«

      Aljoscha hatte ohne alle vorherige schlaue Berechnung geradezu sachlich begonnen; anders darf ein Erwachsener auch nicht beginnen, wenn er das Vertrauen eines Kindes, besonders einer ganzen Gruppe von Kindern erlangen will. Man muß ernst und sachlich beginnen, sich mit ihnen völlig auf gleichen Fuß stellen. Aljoscha hatte das instinktiv begriffen.

      »Der ist doch Linkshänder«, antwortete ein anderer Schüler, ein strammer, gesunder elfjähriger Bursche.

      Die übrigen fünf Knaben blickten Aljoscha unverwandt an.

      »Er schmeißt auch die Steine mit der linken Hand«, bemerkte ein dritter Junge.

      In diesem Augenblick kam ein Stein geflogen und streifte den Linkshänder. Er tat aber keinen weiteren Schaden, obwohl er geschickt und kräftig geworfen worden war. Er kam von dem Jungen jenseits des Grabens.

      »Schmeiß wieder, gib es ihm ordentlich, Smurow!« schrien alle.

      Smurow, der Linkshänder, ließ auch nicht lange auf sich warten und warf einen Stein nach dem Jungen auf der anderen Grabenseite, doch ohne Erfolg: Der Stein fiel auf die Erde. Der Junge warf sofort einen Stein zurück, traf aber diesmal Aljoscha, und zwar ziemlich schmerzhaft an der Schulter. Der Junge auf der anderen Grabenseite hatte die Taschen voll Steine. Das sah man auf dreißig Schritt Entfernung an dem aufgebauschten Mantel.

      »Er hat auf Sie gezielt, absichtlich auf Sie! Sie sind doch Karamasow, nicht wahr?« schrien die Knaben lachend. »Nun aber alle auf ihn! Los, Feuer!«

      Sechs Steine flogen zugleich, und einer davon traf den Jungen am Kopf. Er fiel hin, aber sprang sofort wieder auf und antwortete mit erbitterten Steinwürfen. Es begann ein ununterbrochenes gegenseitiges Bombardement, wobei sich herausstellte, daß auch viele in der Gruppe Steine in den Taschen hatten.

      »Was macht ihr denn! Schämt ihr euch nicht? Sechs gegen einen! Ihr tötet ihn ja!« rief Aljoscha.

      Er sprang vor, um mit seinem Körper den Jungen jenseits des Grabens zu decken. Drei oder vier hörten auf zu werfen.

      »Er hat selber angefangen!« schrie einer in einem roten Hemd mit erregter Kinderstimme. »Er ist ein Schuft! In der Schule hat er Krassotkin mit einem Messer gestochen, daß es blutete. Krassotkin wollte nur nicht petzen, aber jetzt muß der da seine Prügel beziehen!«

      »Wofür? Ihr habt ihn doch sicher auch geärgert?«

      »Jetzt hat er Sie wieder mit einem Stein in den Rücken getroffen. Er kennt Sie«, riefen die Kinder. »Er wirft nur nach Ihnen, nicht nach uns. Alle auf ihn! Ziel nicht vorbei, Smurow!«

      Von neuem begann das Bombardement, und diesmal bösartiger.

      Der Junge jenseits des Grabens wurde von einem Stein an der Brust getroffen, er schrie auf, fing an zu weinen und lief die Michailowskajastraße hinauf.

      In der Gruppe erscholl ein Triumphgeschrei: »Ah, er hat Angst, er kneift, der Bastwisch!«

      »Sie wissen nicht, was für ein gemeiner Kerl er ist, Karamasow. Ihn totzuschlagen wäre noch zuwenig«, sagte der Bursche in der Jacke wieder mit funkelnden Augen; er schien der älteste zu sein.

      »Was ist er denn für einer?« fragte Aljoscha. »Er hat wohl gepetzt, wie?«

      Die Knaben wechselten lächelnd Blicke.

      »Geben Sie auch die Michailowskajastraße entlang?«,fuhr derselbe Junge fort. »Da werden Sie ihn einholen. Sehen Sie, er ist wieder stehengeblieben, er wartet und dreht sich nach Ihnen um.«

      »Er dreht sich nach Ihnen um, er dreht sich nach Ihnen um!« fielen die anderen ein.

      »Fragen Sie ihn doch mal, ob er einen zerzausten Bastwisch liebt. Verstehen Sie. Fragen Sie ihn mal.«

      Darauf erscholl, allgemeines Gelächter. Aljoscha sah die Burschen an.

      »Gehen Sie nicht hin, der wird Ihnen eins auswischen!« warnte ihn Smurow.

      »Nach dem Bastwisch werde ich ihn nicht fragen, damit ärgert ihr ihn sicher. Aber ich werde mich bei ihm erkundigen, was ihr gegen ihn habt.«

      »Erkundigen Sie sich nur, erkundigen Sie sich nur!« riefen die Jungen lachend.

      Aljoscha ging über die kleine Brücke und am Zaun entlang die Anhöhe hinauf, genau auf den Jungen zu.

      »Nehmen Sie sich in acht!« riefen ihm die anderen warnend nach. »Er hat keine Angst vor Ihnen, er wird heimtückisch zustechen, wie er es mit Krassotkin gemacht hat. »

      Der Junge erwartete ihn, ohne sich von der Stelle zu rühren.

      Als Aljoscha ganz nahe war, erblickte er einen Jungen von höchstens neun Jahren, klein und schwächlich, mit einem blassen, mageren, länglichen Gesichtchen und großen, dunklen Augen, die ihn böse ansahen. Bekleidet war er mit einem ziemlich abgetragenen Mantel, aus dem er völlig herausgewachsen war. Aus den Ärmeln ragten die nackten Arme. Auf dem rechten Knie der Hose saß ein großer Flicken, und an der rechten Stiefelspitze, wo die große Zehe sitzt, befand sich ein großes Loch, dessen Rand mit Tinte beschmiert war. Die beiden Taschen seines Mantels waren mit Steinen gefüllt. Aljoscha blieb in zwei Schritt Entfernung vor ihm stehen und sah ihn fragend an. Der Junge, der sogleich an Aljoschas Augen erkannte, daß dieser ihn nicht schlagen wollte, hatte keine Angst und begann von selbst: »Ich bin einer, und die sind sechs. Aber ich werde sie alle allein verprügeln!« sagte er plötzlich mit blitzenden Augen.

      »Der eine Stein muß dich sehr schmerzhaft getroffen haben?« bemerkte Aljoscha.

      »Aber ich habe Smurow am Kopf getroffen!« rief der Junge.

      »Die anderen sagen, du kennst mich und hast aus irgendeinem Grund nach mir geworfen?« fragte Aljoscha.

      Der Junge sah ihn finster an.

      »Ich kenne dich nicht. Kennst du mich?« fragte Aljoscha weiter.

      »Lassen Sie mich in Ruhe!« schrie der Junge gereizt, ohne sich vom Platz zu rühren. Er schien noch etwas zu erwarten, seine Augen funkelten wieder böse.

      »Nun gut, ich gehe«, sagte Aljoscha. »Aber ich kenne dich nicht und will dich nicht ärgern. Die anderen haben mir gesagt, womit sie dich aufziehen. Ich will dich aber nicht aufziehen. Lebe wohl!«

      »Mönch mit Tafthosen!« schrie der Junge und verfolgte Aljoscha mit demselben herausfordernden Blick. Zugleich stellte er sich in Positur, weil er damit rechnete, daß sich Aljoscha jetzt bestimmt auf ihn stürzen würde.

      Doch Aljoscha wandte sich um, sah ihn nur an und ging weiter. Kaum hatte er aber drei Schritte getan, da traf ihn ein Stein schmerzhaft im Rücken; es war der größte, den der Junge in der Tasche gehabt hatte.

      »Du wirfst von hinten? Da haben die anderen also recht, wenn sie sagen, daß du einen heimtückisch überfällst?« Mit diesen Worten drehte sich Aljoscha wieder um, doch der wütende Junge warf erneut nach Aljoscha, und zwar zielte er diesmal aufs Gesicht. Aljoscha konnte rechtzeitig parieren, so daß der Stein ihn nur am Ellbogen traf.

      »Schämst du dich nicht? Was habe ich dir getan?« rief er.

      Schweigend und verbissen erwartete der Junge nichts anderes, als daß sich Aljoscha jetzt auf ihn stürzte. Als dies aber auch jetzt nicht geschah, geriet er wie ein wildes Tier in Raserei. Er stürzte selber auf Aljoscha los, und ehe der sich rühren konnte, hatte der Junge den Kopf gesenkt, mit beiden Händen Aljoschas linke Hand gepackt und ihn schmerzhaft in den Mittelfinger gebissen. Er biß fest zu und ließ etwa zehn Sekunden nicht los. Aljoscha schrie vor Schmerz laut auf und versuchte mit aller Kraft die Hand wegzuziehen. Der Junge gab den Finger endlich frei und sprang zurück. Der Finger war schmerzhaft zerbissen, dicht am Nagel und bis auf den Knochen; er blutete stark. Aljoscha wickelte das Taschentuch fest um die verwundete Hand; womit er fast eine Minute zu tun hatte. Währenddessen stand der Junge da und wartete.