gelegt, über ein Pferd gehängt, wie ein Wäschestück über eine Leine. Der Rücken schmerzte ihn, vom Galopp vergingen ihm die Sinne, sein Kopf war mit Blut gefüllt, es drohte ihm aus den Augen zu schießen. Er erwachte aus der Ohnmacht und schlief gleich ein – so, wie er hing. Am nächsten Morgen band man ihn ab, er schlief noch, gab ihm Essig zu riechen, er schlug die Augen auf, fand sich auf einem Sack in einer Hütte liegen, ein Offizier saß hinter einem Tisch. Pferde wieherten hell und tröstlich vor dem Haus, auf dem Fenster saß eine Katze. Man hielt Tunda für einen bolschewistischen Spion. Roter Hund! nannte ihn der Offizier. Sehr schnell begriff der Oberleutnant, daß es nicht gut war, russisch zu sprechen. Er sagte die Wahrheit, nannte sich Franz Tunda, gestand, daß er auf dem Heimweg begriffen war und daß er ein falsches Dokument besaß. Man glaubte ihm nicht. Schon machte er eine Bewegung nach der Brust, wollte sein richtiges Papier vorzeigen. Aber er empfand den Druck der Photographie wie eine Warnung oder wie eine Mahnung. Er legitimierte sich nicht, es hätte ihm übrigens gar nicht geholfen. Er wurde gefesselt, in einen Stall geschlossen, sah den Tag durch eine Lücke, sah eine kleine Gruppe von Sternen, sie waren hingestreut wie weißer Mohn – – Tunda dachte an frisches Gebäck – – er war ein Österreicher. Nachdem er zweimal die Sterne gesehen hatte, wurde er wieder ohnmächtig. Er erwachte in einem Meer von Sonne, bekam Wasser, Brot und Schnaps, Rotgardisten standen um ihn, ein Mädchen in Hosen war unter ihnen, ihre Brust ahnte man hinter zwei großen, mit Papieren gefüllten Blusentaschen.
»Wer sind Sie?«, fragte das Mädchen.
Sie schrieb alles auf, was Tunda sagte.
Sie reichte ihm ihre Hand. Die Rotgardisten gingen hinaus, sie ließen die Tür weit offen, plötzlich fühlte man die glühende Sonne, obwohl sie weiß und ohne Lust zu brennen war. Das Mädchen war kräftig, sie wollte Tunda emporziehen und fiel selbst nieder.
Bei strahlender Sonne schlief er ein. Dann blieb er bei den Roten.
3
Irene hatte wirklich lange gewartet. In der Gesellschaftsschicht, der das Fräulein Hartmann angehörte, gibt es eine Treue aus Konvention, eine Liebe aus Gründen der Schicklichkeit, Keuschheit aus Mangel an Auswahl und infolge eines diffizilen Geschmacks. Irenes Vater, ein Fabrikant noch aus jener Zeit, in der die Redlichkeit eines Mannes nach der Anzahl der Prozente berechnet wurde, die er auf seine Waren anschlug, verlor seine Fabrik wegen der gleichen Bedenken, denen Irene beinahe ihr Leben geopfert hätte. Er konnte sich nicht entschließen, schlechtes Blei zu verwenden, obwohl die Verbraucher gar nicht anspruchsvoll waren. Es gibt eine geheimnisvolle rührende Anhänglichkeit an die Qualität der eigenen Ware, deren Gediegenheit zurückwirkt auf den Charakter des Erzeugers, eine Treue zum Fabrikat, die ungefähr dem Patriotismus jener Menschen gleicht, die von der Größe, der Schönheit, der Macht ihres Vaterlandes die eigene Existenz abhängig machen. Diesen Patriotismus haben Fabrikanten manchmal mit ihren letzten Bürodienern gemein, wie den großen Patriotismus Fürsten und Korporale.
Der alte Herr stammte aus jener Zeit, in der ein Wille die Qualität bestimmte und in der man noch mit Ethik Geld verdiente. Er hatte Kriegslieferungen, aber keine richtige Vorstellung vom Kriegsleben. Deshalb lieferte er Millionen allerbester Bleistifte an unsere Krieger im Feld, Bleistifte, die unsern Kriegern ebensowenig halfen wie die miserablen Erzeugnisse der anderen Kriegslieferanten. Einem Intendanten, der ihm den Rat gab, geringere Ansprüche an seine Ware zu stellen, wies der Fabrikant die Tür. Andere behielten das gute Material für eine bessere Zeit.
Als der Friede kam, hatte der Alte nur schlechtes Material, das ohnehin im Preis gesunken war. Er verkaufte es mitsamt seiner Fabrik, zog sich in einen ländlichen Bezirk zurück, machte noch ein paar kurze Spaziergänge und schließlich den langen letzten zum Zentralfriedhof.
Irene blieb, wie die meisten Töchter verarmter Fabrikanten, in einer Villa zurück, mit einem Hund und einer adeligen Dame, die Kondolenzbesuche empfing und den Alten ehrlich betrauerte, nicht weil er ihr nahegestanden hatte, sondern weil er dahingegangen war, ohne ihr nahegestanden zu haben. Ihren Weg von einem Majordomus zur Gebieterin hatte der Tod unterbrochen. Jetzt besaß sie die Schlüssel zu Schränken, die ihr nicht gehörten. Sie tröstete sich durch eine ausgiebige Betrachtung der leidenden Irene.
Übrigens war die vornehme Dame mittelbar die Ursache der Verlobung mit Tunda gewesen. Irene hatte sich verlobt, um ihre Selbständigkeit zu beweisen. Verlobtsein war beinahe soviel wie Großjährigkeit. Die Braut eines aktiven Offiziers im Krieg war sogar de facto großjährig. Wahrscheinlich hätte die Liebe, die auf diesem Grunde gewachsen war, die juristische Großjährigkeit, das Kriegsende, die Revolution nicht überdauert, wenn Tunda zurückgekommen wäre. Verschollene aber haben einen unwiderstehlichen Reiz. Einen Anwesenden betrügt man, einen Gesunden, einen Kranken auch und unter Umständen sogar einen Toten. Aber einen rätselhaft Verschwundenen erwartet man, solang es geht.
Es gibt verschiedene Ursachen weiblicher Liebe. Auch das Warten ist eine. Man liebt die eigene Sehnsucht und das bedeutende Quantum an Zeit, das man investiert hat. Jede Frau würde sich selbst geringschätzen, wenn sie den Mann nicht liebte, auf den sie gewartet hat. Weshalb aber wartete Irene? Weil anwesende Männer weit hinter Verschollenen zurückstehen.
Übrigens war sie anspruchsvoll. Sie gehörte zu der Generation der illusionslosen großbürgerlichen Mädchen, deren natürlich-romantische Veranlagung der Krieg zerstört hatte. Diese Mädchen gingen während des Krieges in die Mittelschule, ins Lyzeum, in die sogenannte Töchterschule. Das sind in ruhigen Zeiten die Brutstätten der Illusionen, der Ideale, der Verliebtheiten.
Im Krieg vernachlässigte man die Erziehung. Die Mädchen aller Stände lernten auf Kosten der Jamben Krankenpflege, aktuelles Heroentum, Kriegsberichte. Die Frauen dieser Generation sind skeptisch, wie nur Frauen, die eine große Erfahrung in der Liebe haben. Die stumpfe, simple und barbarische Beschaffenheit der Männer ist ihnen langweilig. Von der armseligen, ewigen und unveränderlichen Methode männlicher Werbung wissen sie alles schon im vorhinein.
Irene nahm nach dem Krieg eine Stellung in einem Büro an, weil man sich damals anfing zu schämen, wenn man nicht arbeitete. Sie gehörte zu den besseren Bürokräften, die der Herr Chef selbst zu rufen, nicht durch den Sekretär holen zu lassen pflegte. Deshalb bildete man sich damals ein, die Welt stünde kopf und die Gleichheit aller wäre gründlich durchgeführt. Welch eine Zeit, in der Fabrikantentöchter das Geehrte vom Achtzehnten dieses beantworten mußten, um bessere Strümpfe tragen zu können. Diese Zeit war »aus den Fugen«.
Irene wartete (wie viele tausend Frauen) morgens, mittags, abends auf den Briefträger. Er brachte manchmal einen gleichgültigen Brief vom Notar. Inzwischen umgaben sie die Seufzer der aristokratischen Dame, deren Mitgefühl aussah wie eine Schadenfreude.
Irene verkehrte bei einer befreundeten Familie aus Triest. Es war eine alte Familie, die seit Dezennien von Kachelöfenerzeugung lebte und von klassischen Statuen aus Gips. Dieser Familie sind die meisten Diskoswerfer zuzuschreiben, die unter Glasstürzen auf Mahagonivitrinen stehen. Ein Zweig der Triestiner Familie hatte – wahrscheinlich aus geschäftlichen Gründen – dem Irredentismus gehuldigt, seine Büros nach Mailand verlegt und sich von dem habsburgertreuen Familienteil getrennt. Beide Lager wechselten nicht einmal mehr Hochzeitstelegramme. So tiefgehende Konsequenzen kann der Patriotismus erzeugen.
Nach dem Kriege knüpften sich die Beziehungen wieder langsam an. Da der Sieg zur Großmut verpflichtet, streckte der italienische Teil der Familie dem österreichischen zuerst die Hand entgegen. Es war ein Neffe, der von Mailand nach Wien kam – und das ist der Mann, den Irene schließlich heiratete.
Er eroberte sie durch Galanterie. Es war in jenen Tagen bei deutschen Männern eine seltene Eigenschaft – sie ist es noch heute. Er war unbedeutend, flink, geschäftstüchtig, er verdiente Geld und besaß die große weltmännische Fähigkeit, geizig zu sein und gleichzeitig einer Frau kostbare und überraschende Geschenke zu machen. Sein persönlicher Geschmack stand in einem verblüffenden Gegensatz zu seinem beruflichen. In seinem Hause befand sich nicht eine einzige jener Statuen, die er fabrizierte. –
Irene war froh, als sie ihre väterliche Villa verließ und nach fünfzehn Jahren zum erstenmal die adelige Dame.
Da