zu sehen, die züngelnde Fahne auf dem Dach des Kreml.
»Eine Revolution zerfällt nicht«, sagte Kudrinski. »Sie hat ja gar keine Grenzen. Der Große Ozean hat keine Grenzen, und das große Feuer – es muß nämlich irgendwo so ein Feuer geben, so groß, so grenzenlos wie der Ozean, vielleicht unter der Erde – vielleicht aber auch im Himmel – ein großes Feuer, es hat keine Grenzen. So ist die Revolution. Sie hat keine Gestalt, sie hat keinen Körper, ihr Körper ist das Brennen, wenn sie ein Feuer ist, oder das Fluten, wenn sie ein Wasser ist. Wir selbst sind Tropfen im Wasser oder Funken im Feuer, wir können gar nicht hinaus.«
Natascha wohnte in einem requirierten Hotel. Sie oblag von sechs Uhr abends der Liebe, natürlich der geschlechtlichen, an der das Herz, der Allgemeinheit gehörig, nicht beteiligt war, der ausdrücklich einwandfreien und hygienischen Liebe. Vom Standpunkt der Gleichberechtigung der Frauen war nichts dagegen einzuwenden. Die Kameradschaft war ihr heilig. Da Tunda als Mann nicht mehr in Betracht kam, erübrigte es sich auch, ihn zu verachten. Er war nur mehr beinahe ein gleichgestellter Genosse. Wie eifrig bemühte sie sich, ihm zu helfen! Mit welchem Ernst bemühte sie sich, mit ihm zu diskutieren. Tunda aber sah sie, wenn er nahe vor ihr stand, wie in einem blassen Spiegel. Er kam zu ihr, wie man in eine Ortschaft kommt, in der man einmal jung gewesen ist. Sie war nicht mehr sie selbst, sie war gleichsam nur der Ort ihres eignen früheren Lebens. Hier hatte Natascha gelebt, sagte sich Tunda, wenn er sie anblickte. Sie trug einen blauen Kittel, sie erinnerte an eine Pflegerin, eine Aufseherin, eine Schaffnerin, nur nicht an eine Geliebte und nicht mehr an einen Soldaten der Revolution. Von ihr ging, obwohl sie der Liebe bedürftig war und von der Liebe schon verwüstet, dennoch eine Art Keuschheit aus, eine unbegreifliche Art trockener Keuschheit, die verlassenen Mädchen ebenso eigen ist wie den Frauen, die mit Vernunft und aus Prinzip die Liebe ausüben. Sie wohnte in einem schmalen, mangelhaft beleuchteten Hotelzimmer. Zwischen einem Sessel, auf dem zerfranste Broschüren lagen, und dem Bett, auf dem sie für die sexuelle Gleichberechtigung wirkte, stand sie wie auf einer Kommandobrücke oder wie auf einem Rednerpodium, die Haare weit aus der Stirn gekämmt, sie preßte die Lippen zusammen, sie standen nicht mehr halb offen wie einst, als sie noch Tunda geküßt hatten.
Tunda sagte ihr:
»Ich kann dich nicht mehr Vorträge halten hören, hör auf! Ich erinnere mich, wie ich dich geliebt und bewundert habe. Ich war sehr stolz auf dich! Im Krieg war deine Sprache frisch, deine Lippen waren frisch, wir lagen im nächtlichen Wald, eine halbe Stunde vom Tod entfernt, unsere Liebe war größer als die Gefahr. Ich hätte nie geglaubt, daß ich so schnell lernen könnte. Du warst immer größer und stärker als ich, plötzlich bist du kleiner und schwächer geworden. Du bist sehr arm, Natascha! Du kannst nicht ohne den Krieg leben. Du bist schön in den Nächten, in denen es brennt.«
»Deine bürgerlichen Vorstellungen wirst du niemals los«, sagte Natascha. »Was du dir für Bilder von einer Frau machst! In brennenden Nächten! Wie romantisch! Ich bin ein Mensch wie du, mit einem zufällig anderen Geschlecht. Es ist viel wichtiger, ein Krankenhaus zu leiten, als in brennenden Nächten zu lieben. Wir haben uns niemals verstanden, Genosse Tunda. Daß wir uns, wie du sagst, geliebt haben, gibt dir heute kein Recht, über meine Veränderung feige zu weinen. Geh lieber hin und melde dich zum Eintritt in die Partei. Ich habe keine Zeit mehr! Ich erwarte Anna Nikolajewna, wir müssen einen Bericht machen.«
Das war Tundas letzte Begegnung mit Natascha.
Sie holte einen Spiegel aus ihrer Aktentasche und betrachtete ihr Gesicht. Sie sah zwei Tränen aus ihren Augen rinnen, langsam und in gleichem Tempo bis zu den Mundwinkeln. Sie wunderte sich, daß ihre Augen weinten, obwohl sie selbst nichts fühlte. Sie sah im Spiegel eine fremde Frau weinen. Erst als Anna Nikolajewna eintrat, wollte sie mit der Hand ihr Gesicht trocknen. Sie besann sich schnell. Es war klüger, Tränen nicht zu verbergen. Sie hielt ihr nasses Angesicht Anna entgegen, wie eine Drohung oder wie ein Schild oder wie ein stolzes Geständnis.
»Warum weinst du?«, fragte Anna.
»Ich weine, weil alles so nutzlos ist, so vergebens«, sagte Natascha, als klagte sie etwas ganz Allgemeines an, was Anna Nikolajewna niemals verstehen konnte.
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