Julian Wendel

Lowlife


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und verändert habe. Zuerst langsam, dann immer schneller und schneller, habe der Mensch versucht, diese Welt zu seinem Wohl zu formen. Doch viele seien dabei auf der Strecke geblieben. Nach dem Feuer, der Erde und dem Stein folgten Bronze, Stahl und andere anorganische Heilsbringer… Ständig begleitete uns der Tod und von Anfang an trieben wir abwärts in dem Strudel, den wir selbst losgetreten hätten, immer schneller und tiefer hinab. Und man sehe nur wo wir jetzt angekommen wären… Aus dem Stahl seien Maschinen entstanden, erdacht vom menschlichen Verstand, der, wohl doch ganz ähnlich den Maschinen, nicht immer sauber funktioniere. Es wären widernatürliche Mechanismen entstanden und ein gewaltiges System sei errichtet worden, so riesig und verzweigt, dunkel und unverständlich, dass es nun niemand mehr gänzlich begreifen könne. Man sei nur noch in der Lage dazu, einen kleinen Teil des gesamten Gebildes zu sehen und vielleicht zu verstehen… Die Welt, die die Menschheit geprägt habe, sei ein grausamer Ort geworden… »Ein elektrisch schwelendes Ungetüm«, nannte er es und fügte etwas von Artensterben, Klimawandel und Rohstoffkriegen hinzu… Wir hätten angefangen, mit dem Feuer zu spielen, hätten jedoch bald die Regeln des Spiels vergessen. Und so sei es gekommen, dass aus dem Spiel tödlicher Ernst wurde und wir anfingen, uns Gegenseitig und uns selbst zu bekämpfen.

      Sobald der Eine kurz verstummte, meldete sich der Nächste zu Wort und platzte endlich mit seinem hochheiligen Gedankengut heraus, welches der ununterbrochene Redefluss des Anderen bis dahin noch zurückgedrängt hatte. Die Person wagte den Versuch, eine alternative Weltsicht anzubieten… »Ihr seit alle so negativ«, begann sie… Der Mensch habe doch atemberaubende Dinge vollbracht… Und wurde sofort vom nächsten Redner unterbrochen, der geschickt konterte… »In der Tat! Atemberaubend, so atemberaubend, dass man glatt ersticken möchte…« Er winkte ab und bemühte sich um den Ausdruck seiner eigenen Weltveranschaulichung, sprach immer aufgeregter und sah dabei aus wie einer der zu schnell und zu verbissen wichste… So wie es debattierende oder in leeren Phrasen eruierende Leute häufig zu tun pflegen… Oder was auch immer sie zu tun glaubten, mit ihren Lippen… Wie lange konnte ich es noch erdulden… Das Gelaber von wegen… Vielleicht sei die Ursache dafür in den Strukturen der Gesellschaft zu suchen. Vielleicht seien einige von uns blind geworden, weil sie zu lange nur in den trügerischen Schein des flackernden Lichts ihrer Fernseher geschaut hätten. Vielleicht liege es daran, dass viele von uns Taub geworden seien, weil sie zu lange knisternden Versprechungen gelauscht hätten. Vielleicht liege es daran, dass viele von uns stumm geworden seien, weil sie zu lange den giftigen Rauch geatmet haben müssen. Vielleicht liege es daran, dass vielen von uns schlecht geworden sei, von dem verkohlten Fleisch, dass sie gefüttert bekämen… Und sicher hätten zu viele von uns vergessen, was es heiße, teilen zu müssen… Auf dem Sofa wurde gerade ein Rest Amphetamin auf einem Spiegel ausgebreitet und jemand rief dem Redenden in seine aufdringliche Akkumulation hinein… »Red keinen Scheiß! Hier bei uns wird noch brüderlich geteilt!« Einen Augenblick lang fragte ich mich, für wie lange diese brüderliche Nächstenliebe noch vorhalten würde… Sie zerfallen zu sehen… Dem galt meine letzte und beschränkte Hoffnung.

      Wir wären doch auch Teil dieser Welt, gemahnte einer… Teil was für einer Welt, fragte ich mich… Einer ständig repetierenden und sich im Kreis drehenden Welt… »Einer Welt, in der wir scheinbar alles im Überfluss haben«, fuhr der Unbekannte fort… Deren Schein ist nur so lange noch schön wäre, wie er trügerisch sei. Überall würde Zusammenarbeit und Teamgeist propagiert. Doch alle Entscheidungen würden von einer Elite getroffen und alle anderen hätten darunter zu leiden… Er sprach wie mit der empörten Stimme eines eingebildeten Prekariats in seinen sauberen und neuen Klamotten und in dieser großen Wohnung… Wie man noch wagen könne, sich aus diesem System zu befreien, fragte er. Man möge die Welt und sich selbst von allem frei machen, was zu viel sei. Der Mensch wäre schon von Anbeginn Jäger und Sammler. Doch was solle man noch sammeln, wenn die Auswahl zu groß und nichts etwas wert sei? Wonach solle man jagen, wenn einem das Jagen verwehrt, und die Urteilskraft genommen sei? Ohne jeglichen Sinn versuche man trotz alldem, immer weiter heranzuschaffen, zu Bunkern und zu besitzen… Jetzt fand er sogar noch eine uninspirierte Überleitung zur Konsumkritik… Ich staunte nicht sehr darüber, hörte aber weiter zu, ließ es über mich ergehen… »Wir sind die größten Raffkes geworden, wollen immer mehr und mehr, mehr als der andere, besser sein, besser aussehen, mehr besitzen, mehr ficken, mehr fressen, mehr scheißen, mehr saufen, mehr pissen, mehr kotzen, mehr sterben, mehr bluten, mehr Macht haben, mehr Ansehen, mehr Bequemlichkeit, mehr Freunde, die gar nicht unsere Freunde sind, mehr Luxus, aber mehr günstig, mehr Unterhaltung, mehr Dinge, die keiner braucht, mehr Ressourcen, mehr Arbeit, mehr Geld, mehr und größere Häuser, größeren Grundbesitz, mehr, mehr, mehr…« Die Person sprach ohne Luft zu holen… Ich schielte herüber und erwartete ein sich blau verfärbendes Gesicht, doch stattdessen hielt es seine Blässe und die Lippen machten weiter… »Mehr, bis es nichts mehr gibt, bis auf den Tod, dabei haben wir gar nicht gemerkt, dass wir uns selbst in Ketten gelegt haben, uns eingemauert haben, so dass wir nicht mehr fliehen können, wenn alles über uns zusammenbricht, die ganze Gesellschaft ist auf Kapital und Konsum gestützt…« Wow, ein richtiger Blitzmerker, diese Person… »Wir kaufen ständig neue Sachen, weil die, die wir schon besitzen im Handumdrehen entweder veraltet oder defekt sind, der Markt will es so, es entstehen Müllberge, Ausschuss, Gifte die hätten vermieden werden können, würden wir nicht glauben, oder viel mehr dazu gezwungen werden, ständig wegzuwerfen und wieder neu zu kaufen, es ist nichts anderes als Scheiße fressen, wir fressen Scheiße, weil wir nichts anderes kennen und wir werden so lange weiter diese Scheiße fressen, wie wir es noch können.«

      Ich überlegte kurz, ob ich vielleicht Beifall klatschen sollte, doch da fing schon wieder der nächste an… »Du hat völlig recht. Das System ist krank…« Im Kern schon verrottet sei es. Zu Milliarden wuchern Geschwüre über den Planeten. Ein Virus breite sich aus, so tödlich und verschlingend wie das HI-Virus… Ich hätte ihm beipflichten können… Die Menschheit ist ein Geschwür… Man hätte es simpel und getrost dabei belassen können, doch er hörte mit dem Sabbeln nicht auf… Es sei die Gier-Krankheit, die uns alle auffressen würde. Das sei sicher die größte Pandemie der Menschheitsgeschichte… Ganz sicher, Herr Doktor, dachte ich… Da rief einer dazwischen… »Wir sind auch krank! Nutzt die Krankheit als Waffe Leute!…« Große Verwunderung in der Runde… »Wie denn das?…« Unschlüssigkeit im Gesicht des Zwischenrufers… Kurzes Überlegen… »Infiziere die Starken, Mann. Du musst die Starken kaputt machen…« Na, klar… Mentale Kriegsführung… Was nur keiner von diesen Genies bedachte, war das Problem, dass die Starken wie Kakerlaken waren… Diese ewigen Pisser waren von jeher mit einer unerschöpflichen und aus purer Arroganz herrührenden Widerstandsfähigkeit gerüstet. Da konnte man sich noch so sehr anstrengen. Man kann sie nicht mit der eigenen Krankheit infizieren. Die husten einmal kurz aus und lachen darüber… Eben darum schaffen sie es nach oben. Beneidenswert… Hahaha!… Totes Gelächter klang in mich hinein.

      Neben mir stellte jemand die Bong fort und unterdrückte seinen aufkommenden Husten… Der mit der Krankheit fuhr fort, hatte sich jedoch jemandem zugewendet, der besser darin war vorzugeben, dass er ihm zuhörte… Denn nebenher war man zu einem anderen, allseits beliebten Gesprächsthema übergegangen… Drogen… Zum Glück waren noch welche da… Ich zwang mich den empörten und verallgemeinernden Philosophen wieder zuzuhören… »Wir betreiben den Exzess als Ökonomie«, meinte der… Es sei eine Krankheit die sich durch alle Bevölkerungsschichten zöge und am häufigsten die Menschen betreffe, die in der Wohlstandsgesellschaft, den sich nun im Wandel befindlichen, einstigen Industrienationen leben… Eine Krankheit, die für Zerfall auf allen Ebenen verantwortlich sei. Die größten Lügner versklaven die Massen, damit es ihnen noch eine Weile gut gehe. Doch mit Gier und ökonomischem Exzess sei es noch nicht genug. Es komme noch der Neid hinzu, von dem man durchdrungen sei, zu dem man erzogen würde. Der Neid auf andere, der daraus resultiere, dass andere mehr hätten als man selbst, dass es diesen Leuten vermeintlich besser ergehe, als einem selbst und, dass es immer jemandem gebe, der mehr Scheiße fressen könne, als man selbst. Doch das sei ein wahrhaft dummer Irrglaube, denn wer viel habe, könne auch viel verlieren. Wenn man zu viel habe, könne man sich nicht schnell genug davon befreien und man würde von all dem Überfluss, von all dem angesammelten und gerafften Ballast in den Abgrund gezogen werden… Die Wohnung war reich und gut ausgestattet. Aber was wusste ich schon, der ich mich Zeit meines Lebens in immer anspruchslosere