Martin Opatz

Vier Adventsgeschichten


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ich davor stehe, weiß ich wieder mal nicht, ob es sich überhaupt lohnt, sich jetzt noch zwischen die hektischen Massen zu werfen. Morgen wäre ja auch noch ein Tag. Es ist dann zwar Sonntag, aber vor Weihnachten sind die Adventssonntage immer verkaufsoffen. Ich schiele zur Gitarre, kann mich jedoch von dem Gedanken losreißen und öffne beherzt die Wohnungstür.

      Nachdem ich die Tür von außen abgeschlossen habe, gibt es kein Zurück mehr.

      3

      Ich überquere die Rheinstraße. Vor dem Supermarkt begrüßt mich ein Mädchen. Es hält mir eine Zeitschrift entgegen, die in einer Plastikhülle steckt. MOTZ steht auf der Titelseite, eine der bekanntesten Obdachlosenzeitschriften in Berlin. Diese Zeitungen werden von den Obdachlosen verkauft. Damit verdienen sie sich ein bisschen Geld, nehmen aber auch gerne ein paar Cent als Spende an. Oft wird man in der U-Bahn angesprochen. Die Zeitschrift kaufe ich selten, ich gebe den Verkäufern jedoch oft einen Euro.

      Dieses Mädchen, das mir die Zeitung anbietet, ist sicherlich keine Obdachlose. Sie ist eher das, was man allgemein als Zigeuner bezeichnet. Sie wünscht mir einen guten Tag und lächelt etwas aufdringlich. Ich habe sie schon des Öfteren hier gesehen. Sie spricht kein Deutsch. Als ich ihr vor Kurzem eine Zeitschrift abkaufen wollte und ihr zwei Euro gab, bekam ich das hochgehaltene Heft nicht. – Sie hatte gar keine Zeitungen zum Verkauf, sondern hatte wohl mal in der Bahn beobachtet, wie Obdachlose damit Geld verdienten, dass sie die MOTZ hochhielten. Sie vermutete sicherlich mangels Sprachkenntnis, dass auf der Zeitung stehen würde Jib mir mal‘n Euro sonst kipp ick hier um! oder so ähnlich. Meine Belehrungen nahm sie stumm lächelnd zur Kenntnis, verstanden hat sie aber offenbar nichts.

      Ich lasse sie stehen und lenke meine nunmehr schnellen Schritte in Richtung Schlossstraße. Diese Einkaufsmeile, gespickt mit Tausenden von Quadratmetern Verkaufsfläche, beginnt an einer großen Kreuzung, an der sich zwei U-Bahnausgänge befinden. Wenn man es schafft, die Kreuzung fußläufig ohne ständiges Anrempeln anderer Passanten zu überqueren, steht man vor dem Eingang eines riesigen modernen Einkaufszentrums. Hier sind zur Weihnachtszeit zusätzlich jede Menge Holzbuden aufgestellt, an denen man Rostbratwürste, Glühwein, Kuchen, Mützen oder Holzpuppen und dergleichen erwerben kann. Also alles, was man eigentlich nicht wirklich zwingend benötigt. Aber es macht Spaß, es zur Weihnachtszeit mal so richtig krachen zu lassen. Eine Thüringer Rostbratwurst mit Glühwein und Holzpuppe, mit ‘ner neuen doofen Mütze auf‘m Kopp – das hat man doch nicht alle Tage.

      Ich erreiche die andere Straßenseite ohne größere Blessuren. Kaum dort angekommen, sehe ich einen Menschen, der versucht, unter einem Teppich hervorzukriechen. Wer damit nicht rechnet, ist erst mal verwirrt, so jedenfalls geht es mir. Als meine Neugierde mich zwingt, etwas näher heranzutreten, erkenne ich einen als Indianer verkleideten Typen, der in gebückter Haltung zwischen der sich vorbeischiebenden Weihnachtsbummelmenschenmenge hin und her rennt. Dabei stampft er kräftig mit den Füssen auf. An den Fußgelenken trägt er breite Ledermanschetten, an denen viele kleine Schellen hängen. Das macht jede Menge Rhythmus und es gibt einige Passanten, denen das offenbar ziemlich gut gefällt. Jetzt erst höre ich die sich von links heranschwingenden Töne einer Panflöte. Der Nutzer dieses Instruments trägt ebenfalls einen Teppich über der Schulter. Mittlerweile stufe ich die Tracht in die Anden-Region ein und nenne sie im Geiste Poncho. Ich gebe gerne zu, dass die Musik fesselnd ist. Ich ertappe mich dabei, dass ich fast schon rhythmisch mit den Tönen mitschwinge. Ein paar Passanten werfen im Vorbeigehen Münzen in die Schale, die vor einem Lautsprecher steht. Es ist für mich verwunderlich, weil sie ja nicht mal wenigstens kurz stehengeblieben sind, um der Darbietung zu lauschen – offenbar haben viele Menschen in der Vorweihnachtszeit ein großes Herz.

      Die Musik ist in der Tat schön, sie hat nur so gar nichts mit Weihnachten zu tun.

      Die Tausenden von Lichtern rings um mich herum schon eher. Man hat sich wieder echt Mühe gegeben, den Kunden eine festliche Stimmung zu verschaffen. Dafür muss es aber auch in den Kassen klingeln. Die vollgepackten Tüten Hunderter vorbeihetzender Kunden sind zumindest ein Indiz dafür, dass eben dieses Klingeln in den meisten Läden sehr oft zu hören ist. Ich möchte nicht wissen, wie viel unnützer Kram da in den vollgepfropften Tüten steckt. Nach Sylvester boomt dann wieder ebay. Na ja, so hat jeder was davon.

      Als ich die kleine Nebenstraße zum Vorplatz des Forum Steglitz, einer weiteren Einkaufsbude, überquere, höre ich schon wieder dieses nervige Gehupe. Doch halt: Es ist keine wirkliche Hupe – zwei junge Männer spielen Trompete. Das, was sich da aus den goldblinkenden gebogenen Musikinstrumenten den Weg an die Ohren bahnt, sollen wahrscheinlich Weihnachtslieder sein. Ich muss allerdings gestehen, dass ich diese Version von Es ist ein Ros‘ entsprungen noch nie gehört habe. Es ist entweder eine ultraneue und sehr moderne Interpretation des Songs oder die Typen spielen einfach nur grottenschlecht. In meinem Kopf manifestiert sich der zweite Gedanke. Trotzdem – man mag es nicht für möglich halten – befinden sich einige Geldstücke in dem offenen Trompetenkoffer.

      Ich drängle mich weiter durch das Gewühle, um dem Trompetenlärm zu entkommen. Gerade als ich glaube, dass zumindest die Lautstärke nachlässt, geht das Getröte an der nächsten Ecke wieder los. Wieso müssen sich unbedingt auch hier, nur ungefähr 30 Meter weiter, noch mal zwei Laienmusiker hinstellen und die Menschheit mit ihren ungekonnten Versuchen, Musik zu erzeugen ärgern? Ein Blick in den Instrumentenkoffer zeigt mir auch hier wieder, dass es entweder eine hohe Anzahl an anonymen Taubstummen gibt oder der Mitleidsfaktor in dieser Jahreszeit enorm hoch ist.

      Ich möchte mir das Ergebnis meiner Überlegungen ersparen und quetsche mich weiter in die Menschenmassen, die mich ein Stück mitschleppen – glücklicherweise wenigstens in meine Richtung.

      Die nächste Straße wird überquert. Hier befindet sich der denkmalgeschützte Titania Palast, ein im Stile der neuen Sachlichkeit erbautes ehemaliges Kino. Nach der Restaurierung befinden sich jetzt allerdings – wie sollte es an einem solchen Standort anders sein – jede Menge Verkaufseinrichtungen darin.

      In diesem Abschnitt des Straßenzuges wird der Bewegungsradius für die Fußgänger durch eine straßenbegleitende Baumreihe eingeengt. Nun kommt noch erschwerend hinzu, dass auch hier die wichtigen kleinen Holzbuden stehen, an denen man Currywürste, Trockenobst oder Mützen käuflich erwerben kann.

      Mein Blick fällt auf einen alten Mann, der auf einer Decke auf dem Gehweg an der Wand des Titania Palastes sitzt. Da ich es mir leider nie erspare, zu allem immer einen Witz zu machen oder mir zumindest einen zu denken, sehe ich vor meinem geistigen Auge schon wieder einen Menschen, der versucht, unter einer Decke hervorzukriechen, diesmal allerdings ohne Panflötenbegleitung. Ich beschimpfe mich innerlich selbst, denn hierbei handelt es sich um einen Obdachlosen, der dort bettelt. Ein kleiner Hund liegt neben ihm. Der hat seinen Kopf auf den Schoß des Alten gelegt und blinzelt ihn an. Sein Herrchen krault ihm den Kopf und somit scheint die Hundewelt in Ordnung. Ich bleibe an der Hauswand stehen und beobachte die beiden. Der Mann hat dichtes weißes Haar. Sein Gesicht ist gerötet. Er hat einen dicken Mantel an und trägt verschlissene knöchelhohe Stiefel. An den Händen kann ich fingerlose Handschuhe erkennen.

      Die vorbeigehenden Menschen vermeiden es, in seine Richtung zu schauen. Er schaut traurig auf den Boden. Jetzt stützt er sich leicht auf und dreht sich in meine Richtung. Unsere Blicke treffen sich. Ein mit Falten übersätes Gesicht lächelt mir sanft entgegen. Ich fühle mich ertappt, lächle zurück, gebe mir einen Ruck und schlendere weiter. Im Vorbeigehen schaue ich in den Plastikbecher, der vor dem Bettler steht; der Becher ist leer. Ich kann es nicht fassen. Hier sitzt ein Mensch, der wahrscheinlich kein Instrument beherrscht, der keine dummen Zaubertricks vorführen kann, der aber offensichtlich auf kleine Spenden angewiesen ist und niemand zeigt auch nur ansatzweise Interesse für ihn. Ich krame in meiner Jackentasche und nehme das gesamte darin befindliche Kleingeld heraus. Ohne mir den Gesamtbetrag näher anzusehen, werfe ich das Geld in den Pappbecher.

      Bei dem Geräusch, das diese Aktion macht, zuckt der kleine Hund zusammen und schaut mich erschrocken an. Der alte Mann nickt mir kurz lächelnd zu und schaut dann wieder auf den Boden. Dabei krault er den Kopf seines Hundes, um ihn zu beruhigen. Der nimmt die Prozedur dankend an.

      Ich