Martin Opatz

Vier Adventsgeschichten


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wirklich zu faul oder zu bequem sind zu arbeiten. Oft sind es jedoch schwere Schicksalsschläge, durch die die Menschen in derartige Situationen geraten. Jeder von uns kennt sicher die bettelnden Zigeuner, die das Betteln schon fast professionell betreiben. In geregelten Abständen flehen sie um eine milde Gabe. Oft sind es Banden, die den Menschen Geld aus den Taschen jammern. Da lasse ich mich nicht zu Spenden hinreißen. Aber bei erkennbar echten Bedürftigen bin ich immer zur Unterstützung bereit. Natürlich kann ich mir nie absolut sicher sein, ob es sich um einen Schauspieler handelt. Ich lebe nach dem Motto: Im Zweifel für den Angeklagten.

      Was hat diesen alten Mann wohl in diese prekäre Lage gebracht? Ich kehre noch einmal um und gehe an die Currywurstbude, vor der der Alte Quartier bezogen hat. Ich bestelle zwei Currywürste mit Pommes, ein paar kalte Wiener Würstchen und einen Apfelsaft. Nachdem ich alles bezahlt habe, nehme ich es und reiche es dem Bettler. Er schaut mich verwundert an, lächelt und nimmt es mit einem kurzen Nicken entgegen. Dem Hund gebe ich die Würstchen, die er freudig annimmt. Der Alte isst die Mahlzeit und schaut dabei auf den Boden.

      Ich bin unsicher, also verabschiede ich mich mit den Worten »Frohe Weihnachten«, drehe mich unschlüssig um und gehe wieder in Richtung Boulevard Berlin, der nächsten großen Einkaufsbude. Nach ein paar Metern drehe ich mich noch einmal um und sehe, wie der Alte mir nachschaut.

      Ich habe keine Lust mehr, mich weiter an den Verkaufsauslagen vorbeischieben zu lassen. Die Leute um mich herum schauen eh alle grimmig drein, so als ob man ihnen das wichtige Geschenk für den Verwandten dritten Grades vor der Nase wegschnappen könnte – Hektik, Eile, Lautstärke und Unmut.

      Ist es wirklich das, was man unter Weihnachten versteht? Was war denn eigentlich an Weihnachten? War‘s da auch so laut damals, als dieses Kind im Stall geboren wurde? War da so ein unglaubliches Gedränge? Sicherlich gab es zumindest nicht die hohe Anzahl an Einkaufszentren und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit hatte niemand eine rote Mütze mit weißem Bommel auf dem Kopf. Und Coca Cola gab‘s auch nicht.

      Egal. Ich versuche, mich aus dem Gedränge zu wurschteln, und stehe an einer Fußgängerampel. Sie schaltet auf Grün. Ich laufe los. Ein Auto will noch passieren und muss meinetwegen bremsen. Der Fahrer hupt wie wild und zeigt mir einen Vogel. Ich unterdrücke den mir angeborenen Reflex, die Fahrertür aufzureißen und dem Störenfried mal so richtig die Meinung zu geigen. Ich bleibe stehen und schaue ihn nur an. Er kann dem Blick nicht standhalten und schaut weg. Was für eine Pfeife. Als er dann endlich weiterfahren kann, hupt er noch mal ausgiebig. Na, der hat daheim was zu erzählen.

      Ich will jetzt nur noch nach Hause. Dieser Trubel ist heute nichts für mich. Morgen ist ja verkaufsoffener Sonntag. Da wird‘s bestimmt ruhiger.

       ***

      Verkaufsoffene Sonntage sind in diesem Jahr am zweiten und am vierten Advent. Heute ist der dritte Advent. Das erklärt relativ deutlich, warum die Einkaufszentren auf der Schlossstraße geschlossen sind. Das kann einem ja mal jemand vorher sagen und es nicht einfach nur übergroß auf die Einkaufstüren der Geschäfte schreiben. Egal, Weihnachten ist sowieso erst am 24.12. Das weiß ich auch, ohne dass man es mir plakatgroß vor die Nase halten muss. Nun gut, so wird es eben ein ruhiger Adventssonntag. Soll mir recht sein. Dann nächsten Sonntag.

       ***

      Ich habe nichts von dem letzten verkaufsoffenen Sonntag. Ich bin grade erst aus Stuttgart in Berlin angekommen. Es ist Sonntagabend. Was ist das eigentlich immer für ein Gewese um diesen blöden Sonntag, an dem man einkaufen gehen kann? Morgen ist zum Beispiel Montag. Der ist verkaufsoffen! Also gehe ich doch morgen früh los und erledige meine Besorgungen. So einfach ist das in einer Großstadt wie Berlin.

      Heute ist aber erst mal noch der vierte Advent. Ich bin mir sicher, dass sich die wenigsten Menschen in der Vorweihnachtszeit dafür interessieren, was das eigentlich für eine Einrichtung ist. Da zündet man Kerzen an und lernt rechnen, weil ja jeden Sonntag eine weitere Kerze angezündet wird … bis es in Summe vier Kerzen sind. Und weiter?

      Nachgegoogelt bezeichnet der Advent die Jahreszeit, in der die Christenheit sich auf das Fest der Geburt Jesus‘ von Nazareth, also Weihnachten vorbereitet. Die Christen gedenken der Geburt Jesus‘ und feiern sie als Menschwerdung Gottes. Haben die echt damals gewusst, dass der am 24.12. geboren wird? Das ist ja mal eine Leistung. Heutzutage hält sich doch keine Sau an irgendwelche Geburtstermine, obwohl da eine ganze Menge elektronisches Equipment als Hilfsmittel benutzt werden darf. Was wäre denn gewesen, wenn der Typ sich mehr Zeit gelassen hätte und so gar keinen Bock auf den Krempel gehabt hätte, der ihn da draußen vor Mamas Bauch erwartete? Nö, ich lümmel noch paar Tage hier rum. Hätten wir dann einen fünften Advent? Und warum lief der Countdown überhaupt vier Sonntage vorher los? Wenn die damals alle so furchtbar schlau waren, warum haben die diese Nummer nicht neun Monate lang durchgezogen?

      Tja, da tun sich eben doch Schwächen auf, wie? Waren wir also doch nicht so toll, wie es uns weisgemacht wird!

      4

      Es ist Montagmorgen. Ich liege auf der Matratze und döse vor mich hin. Kurzer Uhrenvergleich: Ich habe sechs Minuten gewonnen. Da kann ich mich ruhig noch mal auf die Seite drehen.

      Die Stunde, die ich damit verpennt habe, hole ich heute locker auf. Ich döse weiter ein bisschen vor mich hin. Kurzer Uhrenvergleich. Da sind sie wieder, meine sechs Minuten.

      Diesmal nutze ich sie. Carpe diem. Es muss ja nicht immer gleich der ganze Tag sein. Sechs Minuten sind auch schon was. Da bekommt man auch mal einen Bus früher. Heute wird geweihnachtsbummelt – warum auch immer. Ich bin eh allein. Ich will mir aber unbedingt die Weihnachtsstimmung holen.

      Ich liebe Weihnachten. Dieses Fest der Liebe. Dieses endlich mal wieder mit den Lieben zusammensitzen und fröhlich sein. Gänsebraten, Rotkohl und Klöße. Ich versuche, kurz zu errechnen, wieviele Gänse überlebt hätten, wenn es Weihnachten nicht gegeben hätte, aber das sprengt nun doch den Rahmen.

      Ich bin so schnell fertig mit meiner morgendlichen Prozedur, dass ich mich völlig überraschend auf der Straße wiederfinde. Wer hat mich denn hier hingestellt? Aber wenn ich mich schon mal hier befinde, kann ich auch gleich losmarschieren. Ab in Richtung Schlossstraße.

      Ich habe ein absolutes Deja Vu. Es ist zwar heute heller auf der Straße, als beim letzten Besuch dieser Gegend, aber alles sieht gleich aus. Ich bin mir sicher, wenn ich mir die Gesichter letztens gemerkt hätte, würde ich jeden wiedererkennen.

      Der Rassel-Indio verschafft sich immer noch in gebückter Haltung seinen Freiraum an der Ecke. Sein Kumpel flötet vor sich hin und von der nächsten Ecke sind die Laien zu hören, wie sie auf ihren Blasinstrumenten rumtuten. Geld liegt auch wieder in den dafür vorgesehenen Behältern. Alles wie es war.

      Ich schiebe mich in Richtung Karstadt. Eine Ecke davor steht der Titania Palast. Natürlich interessiert es mich jetzt, ob der alte Mann wieder seine Position eingenommen hat. Durch die dichte Menschenmenge kann ich noch nichts sehen.

      Als ich dann freie Sicht habe, kann ich ihn nicht entdecken. Der Platz ist leer. Ich bin ein bisschen enttäuscht. Vielleicht kommt er ja noch. Die Passanten rempeln mich weiter. Ich drehe mich ab und zu noch einmal um, aber ich kann den Platz, an dem der Alte saß, nicht mehr sehen.

      Es ist merkwürdig, wie mich diese Situation beschäftigt. Ich brauche einen Kaffee.

      Beim Feinkostladen Butter Lindner im Boulevard Berlin, einem der Einkaufspaläste, bestelle ich mir das Getränk und setze mich in die festlich geschmückte Passage. Es ist voll hier. Menschen mit Tüten und Taschen hasten von einem Laden in den nächsten. Sicherlich nimmt niemand von der wirklich schönen, dennoch sehr überladenen Weihnachtsdekoration Notiz. Wer sich allerdings Weihnachtslieder gewünscht hat, wird enttäuscht: Es läuft Lounge-Mucke zur Berieselung.

      Ich versuche, mir wieder das Gefühl von Weihnachten vorzustellen. Es gelingt mir schon allein deshalb nicht, weil ich dauernd an den Bettler mit seinem kleinen struppigen Hund denken muss.

      Ich trinke den Kaffee