Marianne Le Soleil Levant

Skyline Deluxe


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natürlich seine eigenen Träume selbst hinbog, wie er mochte und sie nur aus dem Bestehen konnten, was sein Geist preisgab. Eine lineare Zeitachse gab es in Träumen nicht unbedingt und so ist es möglich, dass Thomas im Traum einen weiteren Verlauf linear betrachtet schon vorher erlebte. Sein Wechsel in die scheinbar kon­ventionelle Realität mit der Erkenntnis des leeren Lokals lässt sich ganz einfach bewerkstelligen. Eine Art Traum im Traum. Im Traum ist eben alles möglich, was man sich vorstellen kann. Fragt sich, ob Chi gleichsam das Lokal als vollkommen leer verstanden hat. Dazu kam es nicht, da der junge Kellner auf den Tisch zu getreten war. Es stellte sich vielmehr als irgendwie entsetztes, auf die Weisung des Alten hin nur unfreiwillig, aber routiniertes, wenn auch ohne nutz­lose Hast, praktisch träges Herüberschlurfen dar.

      Er fragte auch nicht etwas wie „Your order, please.“ Oder vielleicht weniger höflich, sondern schlicht nichts. Auch nicht „Hello“, was schon sehr unhöflich und daher seltsam wäre, aber Thomas schrieb es der komischen Stimmung und der Ängstlichkeit des Jungen zu und fing selbst an: „Do you have some drinks?“

      Erst mal vorfühlen, das mit dem Taxi konnte man ja immer noch aufbringen. Nichts zu bestellen, wäre auch total unhöflich.

      „What you want to drink?“, kam als Antwort.

      „May I see the menu?“, fragte Thomas, der einfach zwei Coke oder etwas anderes, profanes hätte ordern können, um der Pflicht genüge zu tun. Chi schaute ihn an.

      Gerade hatte er die Gelegenheit wahrnehmen und Chi fragen wol­len, ob ihr der Laden auch im ersten Moment als gefüllt erschien. Aber dazu kam es nicht.

      Der Junge drehte sich um und nahm seinen Arm über die kurze Distanz zum Tresen hin die zwei Menüs, welche ihm von der Frau neben dem Alten mit ebenso ausgestreckten Armen gereicht wur­den, entgegen. Nur um sich wieder zum Tisch drehen und sie den beiden wortlos zu geben. Thomas nahm beide, ohne ihn anzusehen. Das war Absicht und nicht schlimm.

      Sie sahen in das Schriftwerk und Chi bestellte eine Coke. Jetzt sollte Thomas, wenn er sich schon eine Karte bringen hatte lassen, irgendetwas Interessanteres finden, aber auf Cocktails und Long­drinks hatte er keine Lust. Ein Shake würde nur dauern. Da half ihm der Geistesblitz abzulenken und zuerst und unerwartet danach zu fragen, wie lange es dauern würde bis ein Taxi kommt. Der Junge quittierte das mit dem Vorschlag auf die Straße zu gehen und sich eines aufzuhalten, wenn es so weit wäre. Thomas versuchte zu erklären, dies wäre auch seine erste Idee, aber zu lange schon erfolglos geblieben, um sein Gesicht etwas zu retten, wenn er sein Versagen dahingehend eingestehen musste. Ob man nicht eines hierher bestellen könnte, er einen Fahrer vielleicht sogar kannte. Thomas dachte, das sei wohl sicher zu bestätigen. Der Junge schlurfte weg, ohne weiter auf eine Bestellung von Thomas zu warten und fing an mit seinem Onkel, dem Alten zu sprechen. Chi und Thomas hörten davon wenig und hätten selbstverständlich nichts verstehen können, da sie in einer wirklichen Situation Thai sprächen. Nun so auch im Traum.

      Daraufhin fing sich der Laden an zu füllen. Es war nicht so, dass Gäste durch die Tür eintrafen. Sie manifestierten sich nacheinander im Raum. Chi schien das nicht zu überraschen, was darauf hindeu­ten könnte, sie hätte die Gestalten erwartet oder vielleicht die ganze Zeit gesehen. Thomas wusste es noch immer nicht. So war eben sein Traum. Er selbst blieb auch darin verwundert und fühlte sich nicht wohl damit. Die Anwesenden schienen sich zum Teil zu kennen und saßen in Gruppen an den Tischen oder standen an die Wand gelehnt, Frauen die Hüften zur Musik wiegend. Thomas hörte jetzt Musik. Rockmusik. Das Publikum war eher mehr, als weniger betrunken und entsprechend ausgelassen. Bald trat jemand an ihren Tisch und fragte freundlich nach. Lud sie ein, mitzutrinken.

      Da brachte der Junge zwei Coke, die Thomas dankend bezahlte. Der Junge wandte sich ab. Taxi momentan kein Thema. Und drin waren sie in einer der vielen Nächte, die der BLUE FOX in vergangenen Zeiten gesehen hatte. Der Junge war nun jünger und auch der Onkel sah schon weit fröhlicher aus. Seine Schwester werkelte zufrieden zwischen Spüle und Zapfhahn.

      Im Traum verbrachten sie nun gut und gerne drei bis vier Stunden in der Gesellschaft von einer Mischung aus jungen und älteren Backpackern, Sinnsuchern, Weltreisenden, Kiffern, Alkoholikern, Gescheiterten, Selbstbefreiern, Freiern, Hippies, Rockern, die alle ihren Spaß hatten und vor allem das nicht mochten: Als Mitglieder von einer dieser Kataloggruppen bezeichnet zu werden. Jetzt gerade waren es lustige Menschen, die zusammen in einer Kneipe tanzten, redeten und herumsaßen. Chi und Thomas tranken längst selbst Alkohol, der ihnen ausgegeben wurde, bis sie wieder an der Reihe waren, zu spendieren. Inzwischen war das finanziell für Thomas nicht das geringste Problem und Chi wurde von ihm ausgehalten. Was sie schmunzeln ließ. Wusste sie doch um den weit größeren Reichtum ihrer Familie, was Thomas aber eigentlich selbst im Traum noch nicht wissen, sondern nur ahnen konnte. Er verkaufte sie als japanische Prinzessin, wenn sie nachfragten, warum sie so fein gekleidet waren, was in dieser Gegend eher nicht verbreitet war. Chi berief sich nur zu gerne darauf ganz schlecht Englisch zu verstehen, hielt sich wie eine Sphinx geheimnisvoll bedeckt und genoss so eine Beobachterrolle. Man tratschte über alles und jeden, wobei Thomas seine eigene Traveler-Zeit zu Hilfe kam und ihm manchen Respekt einbrachte, da seine Erzählkunst hier auf frucht­baren Boden fiel. So viele Geschichten jeder selbst beisteuern konnte, so interessant war doch, was andere erlebt hatten. War es ähnlich, erleuchtete es das Verständnis auf eigene Erlebnisse, war es neu, konnte man etwas lernen. Am besten blieben doch die lustigen, magischen, wilden und wunderbaren Ereignisse. Man war bereit alles zu glauben. Und auch ein bisschen zu übertreiben. Viele sehr. Der Morgen dämmerte bis sich die Gemeinschaft langsam auflöste. Frühstücksgäste gab es kaum. Keine.

      Thomas und Chi blieben zurück. Als Einzige.

      Wollten sie nicht schon längst ein Taxi?

      Thomas winkte beschwippst dem Jungen, der jetzt wieder älter wirkte. Na ja, nach so einer Nacht. Und erinnerte ihn an das Taxi.

      Es würde bald kommen.

      Der Onkel kam herüber.

      Freundlich, fast väterlich sprach er zu Thomas und Chi.

      „Vielen Dank. Gäste sind hier selten geworden.“

      Thomas stutzte.

      „Ihr seid die Einzigen.“

      Thomas hob die Augenbrauen. Also doch, dachte er.

      „Ja richtig, das Lokal ist leer. Jetzt, als ihr vorher hereinkamt und die ganze Zeit“, sprach der Onkel weiter, ohne dass Thomas gefragt hatte. „Ihr seid die einzigen Gäste seit langem.“ Pause.

      „Da wollten wir die Gelegenheit nicht verpassen, bessere Zeiten wieder aufleben zu lassen.“

      Das reimt sich, dachte Thomas im Traum.

      Diese Ansprache träumte er in Deutsch. In Englisch, der Sprache, in welcher der Onkel in einer realen Situation zu einem Ausländer sprechen würde, reimte es sich nicht. Hätte sich ein träumender Poet einen englischen Vers ersonnen, so könnte er nur holprig und den Wortschatz des Onkel übersteigend ausfallen, der sicher in seiner Rede keinen Wert auf Reime zu legen vorhatte.

      „So haben wir die Geister der früheren Gäste in die Bar projiziert und feiern lassen.“

      „Die Geister?“, dachte Thomas.

      Ich war ja auch einmal Gast, bin aber nicht tot.

      Chi schien das alles gar nicht zu kümmern.

      Sie hörte selig lächelnd zu.

      „Wir sind dankbar, dass ihr geblieben seid und mitgefeiert habt“, fuhr der Onkel fort.

      „So konnten wir ein seltenes Mal wieder erleben, wie es damals war, als hier eines der Backpacker-Zentren war.“

      Damals, als das Hotel MALAYSIA jedermann ein Begriff war, oder zumindest denen, die es anging. Es hatte einen eigenen Status und das bald gegenüber eröffnete BOSTON INN bediente zwar auf­grund seines aktuelleren Standards neuerer Ausstattung ein leicht gehobenes Klientel, schaffte es aber nie, die Legende zu erreichen. Im MALAYSIA wohnten sie in den Anfängen schon deshalb, weil es die in der Folge in der Umgebung sprießenden Gästehäuser noch nicht gab. Es war weder eigentlich billig noch zu den wirklich