Donnerstag 1. Mai 1997, 10:02 Uhr
‚Was, schon zehn Uhr.’ Den vom Schlaf schweren Blick vom Wecker abwendend streckt sich Claude schlaftrunken in seinem Bett, wobei es ihm nicht so recht gelingen will, die nächtliche Mattigkeit aus seinen Gliedern zu schütteln, die er durch den langen spätabendlichen Spaziergang, der ihn nicht nur kreuz und quer durch Frankfurts Nachtszene, sondern bis hinunter ans Mainufer geführt hat, mit verursacht sieht. Die Bettdecke mit den Füßen zurückstoßend, macht er im Bett eine Kerze, dabei die Beine abwechselnd anziehend und dann wieder ausstreckend, das ganze zwanzig Mal hintereinander, ehe er sich wieder in voller Länge aufs Bett fallen und dabei gleichzeitig seinen Oberkörper nach vorne federn lässt. Mit einem Sprung katapultiert er sich aus den Federn und überlässt den Rest des Wiederbelebungsprogramms der Dusche, deren Mischbatterie er am Schluss auf ganz kalt dreht, wodurch auch das letzte bisschen Schlappheit den Abfluss hinuntergespült wird.
Kaum ist er in seine Kleidung geschlüpft, taucht Brehms Gesicht wieder schemenhaft vor seinen inneren Augen auf. Vom langen Gehen durch die Nacht zu sehr ermüdet, konnte er sich nach seiner Rückkehr nicht mehr dazu durchringen, seiner Vermutung Gewissheit zu verschaffen, was er nunmehr umgehend nachzuholen beabsichtigt, weswegen er auf ein Frühstück verzichtet und sich stattdessen sofort daranmacht, die Abzüge von Philipps Aufnahmen einer kritischen Prüfung zu unterziehen, in der Hoffnung, auf dem einen oder anderen davon Brehm zu entdecken. Und tatsächlich wird seine Suche belohnt, wird seine vage Erinnerung bestätigt. Auf zwei der Aufnahmen vermag er den Besitzer des Klubs 66 eindeutig auszumachen, zwar beide Male nur als relativ kleine Person im Hintergrund, dennoch aber klar erkennbar. Bietet das erste Bild kaum Anhaltspunkte dafür, wo es entstanden ist und wer die anderen darauf abgebildeten Personen sein könnten, so zeigt das zweite Brehm ins Gespräch mit zwei Asiaten - vermutlich Chinesen - vertieft, die Claude allerdings beide unbekannt sind. ‚Davon muss ich unbedingt eine Ausschnittsvergrößerung anfertigen’, beschließt er, das Negativ des Fotos heraussuchend.
Von dieser möglichen neuen Spur mit frischem Elan erfüllt, lässt er sich vom herbeigerufenen Taxi in Philipps Wohnung bringen, wo er schon nach wenigen Minuten anlangt, da die Straßen aufgrund des Feiertags wie leergefegt sind, zumal leichter Nieselregen den einen oder anderen zusätzlich davon abgehalten haben mag, das Haus zu verlassen. Claude ist es recht. An seinem Zielort angekommen, macht er sich, nachdem er die Fenster zum Lüften gekippt hat, unverzüglich im Labor an die Arbeit, wobei es eine Weile dauert, bis er alle nötigen Utensilien gefunden hat. Trotz dieser Verzögerung klammert er kaum zwanzig Minuten später den vergrößerten Ausschnitt zum Trocknen an die Leine und unterzieht ihn einer ersten genaueren Überprüfung. Doch auch wenn die Gesichter der drei abgebildeten Personen jetzt klarer zu erkennen sind, geben die beiden neben Brehm sitzenden Gestalten ihre Identität nicht preis, sind von Claudes Gedächtnis nirgendwo einzuordnen, was ihn indes nicht entmutigt. Zwei weitere Abzüge, von denen er einen Krüger zukommen lassen will und den anderen in Reserve zu halten beabsichtigt, sind rasch angefertigt. Ein wenig ärgert er sich, dass gerade heute Feiertag ist, sonst hätte er den Abzug sogleich dem Kommissar vorlegen können, von dem er auch gerne gehört hätte, wie weit er mit seinen Ermittlungen zwischenzeitlich gekommen ist. Da der Stundenzeiger der Uhr wenige Minuten zuvor die zwölf passiert hat und sich - das fehlende Frühstück einmahnend - sein Magen knurrend rührt, verlässt er die Wohnung seines Bruders wieder und winkt an der nächsten Querstraße ein Taxi herbei, das ihn zum Bambusgarten bringen soll, wo er, wie er dies am Vortag geplant hat, sein Mittagessen einzunehmen gedenkt, wodurch er in diesem Fall sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt.
Schon das Äußere verrät Claude, dass es sich bei diesem chinesischen Restaurant um eines der besseren Kategorie handelt, nicht eines jener asiatischen Esslokale ist, in denen man vielfach zwar gut essen kann, bei denen es oftmals aber an der Ausstattung, dem Ambiente fehlt, wie er es zuletzt so oft auch in Chinatown von San Francisco feststellen musste. Der schon auf den ersten Blick unverkennbaren Gediegenheit kann auch der im Verlauf der Taxifahrt stärker gewordene Regen optisch nichts anhaben, vielmehr wird jene beim Betreten des Lokals nachhaltig unterstrichen. Nicht der in vielen chinesischen Restaurants anzutreffende überbordende Farben- und Schnickschnack-Rausch, der für gewöhnlich großflächige, lärmerfüllte Räume verunstaltet, nein, an diesem Ort vermitteln geschmackvoll und zurückhaltend eingesetzte Dekorationselemente wie fein bemalte Wandfächer, ausgewählte Schmucksteintafeln sowie Tafeln goldbemalter dreidimensionaler Wandschnitzereien und Lampions verschiedenster Art den Gästen sofort das Gefühl, in stilvoller Umgebung speisen zu können, ein Gefühl, das nicht zuletzt auch auf der Intimität verschaffenden Raumaufteilung beruht, die aus zum Teil durchbrochenen Holzschnitzwänden besteht, deren dunkle Lackierung dem Raum zusätzlich von seiner Größe nimmt. Claude, Anhänger, Liebhaber der chinesischen Küche, hat während seiner Reisen rund um den Globus zwar schon so manches China-Restaurant besucht, kann sich aber nur an wenige erinnern, die diesem an Eleganz gleichkommen.
„Guten Tag, mein Herr, haben Sie reserviert?“, erkundigt sich die Dame hinter dem Pult am Eingang bei ihm mit charmantem Lächeln.
Den Gesichtszügen nach stuft sie Claude als Südchinesin oder Vietnamesin ein. „Nein, ... hätte ich dies tun müssen?“, setzt er sein gewinnendstes Lächeln auf, um so die Gefahr zu mindern, von ihr abgewiesen zu werden, was aber ohnehin nicht geschieht.
„Normalerweise empfiehlt es sich, heute Mittag ist es aber, trotz des Feiertags, vergleichsweise ruhig, heute Abend hingegen hätten Sie ohne Reservierung keine Chance.“ Sie tritt hinter dem Empfangspult hervor, wodurch ihr dunkelvioletter, langgeschlitzter, bodenlanger, formvollendet an die schmalen Hüften sich schmiegender Rock sichtbar wird, der sich im Zusammenspiel mit der an den Ärmelenden und um den schmalen Kragen herum mit Goldfaden bestickten Weste, die eine winzige Nuance dunkler gehalten ist als jener, zu solch einem Augenschmaus zusammenfügt, dass dieser das Kommen allein schon lohnt. „Würden Sie mir bitte folgen“, fordert ihn die junge Frau auf, deren schulterlanges glattes, pechschwarzes Haar bei der Drehung ihres zerbrechlich wirkenden Körpers Claude an einen von lauen Winden sachte in Bewegung gesetzten Vorhang erinnert, der sanft hin und her schwingt. Die Speisekarte unter dem Arm, schreitet sie voran, so dass ihm genügend Zeit bleibt, ihren wohlgeformten Körper ausgiebig von hinten zu studieren, wobei er die Reizsignale, die die beim Ausschreiten in den Längsschlitzen sichtbar werdenden, in einer hautfarbenen Feinstrumpfhose steckenden Beine aussenden, deutlich verspürt, was ihm unwillkürlich ins Bewusstsein ruft, wie lange er mit keiner Frau geschlafen hat.
„Ist Ihnen dieser Platz recht?“, bietet die Dame in Violett ihm einen reizend in einer kleinen Nische stehenden Tisch an, der für ein Tête-à-tête perfekt wäre, ihm für seine Zwecke allerdings als weniger geeignet erscheint. Um einen zentraler gelegenen Tisch bittend, hofft Claude, sich seiner vorherigen Gedanken fast schämend, diese mögen ihm nicht ins Gesicht geschrieben stehen. Aus dem leichten Augenaufschlag, den er bei ihr zu registrieren sich einbildet, wird er indes nicht schlau, vermag er nicht zu erkennen, ob er als Aufforderung oder als Zeichen der Geringschätzung gemeint war. Höflich wie zuvor wählt sie vielmehr einen anderen Tisch für ihn aus, dessen zentrale Platzierung im Raum dem entspricht, was sich Claude vorgestellt hat.
„Wissen Sie, ich bin zum ersten Mal hier und möchte mir das Interieur in Ruhe anschauen können“, erklärt er ihr das Motiv für seine Bitte, was zwar nicht der ganzen Wahrheit entspricht, aber auch nicht gelogen ist, geht es ihm bei seinem Besuch, neben dem Wunsch wieder einmal gut chinesisch zu essen, auch darum, herauszufinden, ob Philipp auch in diesem Lokal fotografiert hat oder nicht. Zu diesem Zweck hat er zuvor in Philipps Wohnung noch einmal rasch sämtliche Abzüge durchgeschaut, ihren Inhalt geistig abgespeichert, und schließlich diejenigen von ihnen, von denen er sich am meisten verspricht, eingesteckt, um sie notfalls zwecks einer Gegenprobe vor Ort zur Hand zu haben. Während sie ihm die hellrote Stoffserviette auf den Schoß legt und sodann die Speisekarte überreicht, erkundigt er sich: „Können Sie mir etwas besonders empfehlen? Was ist denn die Spezialität des Hauses?“
„Sehr beliebt sind zum Beispiel die gedünsteten Garnelen oder das Hühnchen in Zitronensauce, ich persönlich esse aber auch sehr gerne die mit Honig glasierte Ente. Doch lassen Sie sich Zeit, schauen Sie sich erst einmal die