Fjodor Dostojewski

Der Jüngling


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der streitsüchtige Opponent. »Ein logischer Schluß vertreibt ohne weiteres die vorgefaßten Meinungen. Die verstandesmäßige Überzeugung gebiert das entsprechende Gefühl. Der Gedanke geht aus dem Gefühl hervor und formuliert seinerseits, sobald er sich im Menschen festgesetzt hat, ein neues!«

      »Die Menschen sind sehr verschiedenartig: die einen wechseln ihre Gefühle leicht, die andern schwer«, antwortete Wassin in einem Ton, als wünsche er die Debatte nicht weiter fortzusetzen; aber ich war entzückt von seinem Gedanken.

      »Es verhält sich genauso, wie Sie gesagt haben!« Mit diesen Worten wandte ich mich auf einmal an ihn; das Eis des Schweigens war bei mir gebrochen, und ich begann plötzlich zu reden. »Ganz richtig, an Stelle des einen Gefühles muß man ein anderes hervorrufen, um das erstere zu ersetzen. In Moskau lebte vor vier Jahren ein General ... Sehen Sie, meine Herren, ich habe ihn nicht gekannt, aber ... Vielleicht konnte er auch durch seine Persönlichkeit keine besondere Hochachtung erwecken ... Und außerdem konnte auch sein Verhalten selbst unverständig erscheinen, aber ... Also, sehen Sie, es starb ihm ein kleines Kind, das heißt, eigentlich zwei kleine Mädchen, eins nach dem anderen, am Scharlach ... Und was sagen Sie dazu: das schmetterte ihn so nieder, daß er sich ganz seiner Traurigkeit überließ, dermaßen, daß es gar nicht anzusehen war, – und es endete damit, daß er starb, ein halbes Jahr darauf. Daß dies die Ursache seines Todes war, steht fest! Wodurch hätte man ihn also wieder aufrichten können? Antwort: durch ein gleich starkes Gefühl! Man hätte diese beiden kleinen Mädchen aus dem Grab herausholen und ihm wiedergeben müssen – das war das Ganze; das heißt, so etwas Ähnliches hätte man tun müssen. So starb er denn. Und dabei hätte man ihm die schönsten Schlüsse vorführen können: daß das Leben schnell vergeht und daß alle Menschen sterblich sind, und man hätte ihm aus dem Kalender die statistischen Angaben vor Augen halten können, wie viele Kinder am Scharlach sterben ... Er war pensioniert ...«

      Ganz außer Atem hielt ich inne und sah mich rings um.

      »Das gehört gar nicht hierher«, sagte jemand.

      »Der von Ihnen angeführte Vorgang ist zwar mit dem vorliegenden Fall nicht gleichartig, hat aber doch einige Ähnlichkeit mit ihm und trägt zum besseren Verständnis der Sache bei«, sagte Wassin, sich zu mir wendend.

      Hier muß ich bekennen, warum ich über Wassins Argument von der zum Gefühl werdenden Idee so entzückt war, und zugleich muß ich bekennen, daß ich mich furchtbar schämte. Ja, ich hatte Angst gehabt, zu Dergatschew zu gehen, wenn auch nicht aus dem Grund, welchen Jefim vermutete. Ich hatte deswegen Angst gehabt, weil ich mich schon in Moskau vor ihnen gefürchtet hatte. Ich wußte, daß sie (das heißt sie oder andere Menschen in ihrer Art; welche, ist dabei gleichgültig), daß sie Dialektiker waren und am Ende »meine Idee« zertrümmern würden. Ich hatte zu mir selbst das feste Vertrauen, daß ich ihnen meine Idee nicht verraten und nicht mitteilen würde; aber sie (das heißt wieder sie oder Leute von ihrer Art) konnten mir von sich aus etwas sagen, durch das ich, ohne ein Wort von meiner Idee gesagt zu haben, sie doch enttäuscht fallenlassen würde. In »meiner Idee« gab es Fragen, die ich nicht gelöst hatte, von denen ich aber nicht wollte, daß sie ein anderer als ich löste. In den letzten zwei Jahren hatte ich sogar aufgehört, Bücher zu lesen, aus Furcht, in ihnen auf eine Stelle zu stoßen, die der »Idee« widersprechen und mich unsicher machen könnte. Und nun hatte Wassin auf einmal die Aufgabe gelöst und mich in höchstem Maße beruhigt. In der Tat, wovor hatte ich mich denn gefürchtet, und was konnten sie mir mit all ihrer Dialektik anhaben? Ich war vielleicht der einzige von ihnen, der verstand, was Wassin eigentlich mit der zum Gefühl werdenden Idee gemeint hatte! Es reicht nicht aus, daß man eine schöne Idee widerlegt; man muß sie durch eine andere, gleich starke schöne Idee ersetzen; andernfalls werde ich, da ich mich unter keinen Umständen von meinem Gefühl zu trennen wünsche, in meinem Herzen die Widerlegung widerlegen, wenn auch mit Gewalt; mögen sie sagen, was sie wollen. Und was könnten sie mir als Ersatz geben? Deshalb hätte ich mutiger sein können; ich war dazu verpflichtet, mannhafter zu sein. Während ich über Wassin in Entzücken geriet, ergriff mich ein Gefühl der Beschämung, und ich hatte die Empfindung, daß ich noch ein unwürdiges Kind sei.

      Es kam noch ein anderer Grund zum Schämen hinzu. Nicht nur der häßliche Wunsch, mit meinem Verstand zu prahlen, hatte mich veranlaßt, mein Schweigen zu brechen und das Wort zu ergreifen, sondern auch das Verlangen, mich ihnen »an den Hals zu werfen«. Dieses mein Verlangen, mich anderen Leuten an den Hals zu werfen, damit sie mich für einen guten, braven Menschen halten und in ihre Arme schließen möchten und dergleichen mehr (kurz gesagt: eine Schweinerei), dieses Verlangen halte ich für die widerwärtigste all der Eigenschaften, deren ich mich zu schämen habe, und ich hatte ihr Vorhandensein in mir schon längst vermutet und sie namentlich auf das zurückgezogene Leben zurückgeführt, das ich so viele Jahre geführt hatte, obwohl ich es nicht bereue. Ich war mir bewußt, daß ich unter Menschen mehr finsteren Ernst zeigen mußte. Jedesmal, wenn ich mich in schmählicher Weise hatte gehenlassen, tröstete mich nur das eine, daß ich doch die »Idee« bei mir behalten, sie immer noch als Geheimnis bewahrt und ihnen nicht verraten hatte. Mit Herzensbeklemmung stellte ich mir manchmal vor, daß, wenn ich jemanden etwas von meiner Idee wissen ließe, mir dann auf einmal nichts Eigenes mehr bleiben würde, so daß ich ebenso ein Mensch wie alle werden und vielleicht sogar die Idee aufgeben würde; und deshalb hütete und bewahrte ich sie ängstlich und zitterte davor, ins Schwatzen zu kommen. Und nun hatte ich bei Dergatschew gleich beim ersten Zusammentreffen mich nicht beherrschen können; ich hatte allerdings nichts verraten, aber doch in unverzeihlicher Weise geschwatzt; ich mußte mich in tiefster Seele schämen. Eine widerwärtige Erinnerung! Nein, ich kann nicht unter Menschen leben; das ist auch jetzt noch meine Ansicht; das sage ich für vierzig Jahre im voraus. Meine Idee ist die Zurückgezogenheit.

      Kaum hatte mich Wassin gelobt, da ergriff mich auch ein unwiderstehliches Verlangen zu reden.

      »Meiner Ansicht nach ist ein jeder berechtigt, seine Gefühle zu haben ... wenn sie seiner Überzeugung entsprechen ... und es darf ihm niemand deswegen Vorwürfe machen«, sagte ich, zu Wassin gewandt. Ich sprach zwar recht gewandt, aber als wäre nicht ich der Redende, als bewegte sich in meinem Munde eine fremde Zunge.

      »So-o-o?« fiel sogleich mit ironischer Dehnung jene selbe Stimme ein, die vorher den redenden Dergatschew unterbrochen und Krafft zugerufen hatte, daß er ein Deutscher sei. Da ich den Betreffenden für ein ganz wertloses Subjekt hielt, wandte ich mich an den Lehrer, als wäre er der Zwischenrufer gewesen.

      »Es ist mein Prinzip, über niemand den Stab zu brechen«, sagte ich zitternd; ich wußte schon vorher, daß ich jetzt in Fahrt kommen würde.

      »Warum denn so geheimnisvoll?« ließ sich wieder die Stimme des wertlosen Subjekts vernehmen.

      »Jeder hat seine Idee«, fuhr ich fort, indem ich dem Lehrer starr ins Gesicht blickte, der seinerseits schwieg und mich lächelnd ansah.

      »Was haben Sie denn für eine?« rief das wertlose Subjekt.

      »Das auseinanderzusetzen, würde zu lange dauern ... Ein Teil meiner Idee besteht eben darin, daß ich in Ruhe gelassen sein möchte. Solange ich noch zwei Rubel besitze, will ich mein eigener Herr sein und von niemand abhängen (beunruhigen Sie sich nicht, ich kenne Ihre Erwiderung) und nichts tun, nicht einmal für jene große künftige Menschheit, für die zu arbeiten Herr Krafft aufgefordert worden ist. Die persönliche Freiheit, das heißt meine eigene, geht mir über alles, und weiter will ich von nichts wissen.«

      Mein Fehler war, daß ich hitzig wurde.

      »Also predigen Sie die Ruhe einer satten Kuh als Ideal?«

      »Meinetwegen. Eine Kuh tut niemandem etwas zuleide. Ich bin niemandem etwas schuldig; ich bezahle der menschlichen Gesellschaft Geld in Form von Steuern, damit ich nicht bestohlen, durchgeprügelt oder totgeschlagen werde; aber weiter hat niemand etwas von mir zu verlangen. Vielleicht habe ich persönlich auch noch andere Ideen und will der Menschheit dienen und werde es tun und werde es vielleicht in zehnmal so großem Maße tun als alle diese Prediger, aber ich will nicht, daß das jemand von mir fordert, mich dazu zu zwingen versucht wie Herrn Krafft; ich will meine volle Freiheit haben, auch wenn ich keinen Finger rühre. Aber herumzulaufen und sich allen Leuten aus Menschenliebe an den Hals zu hängen