Fjodor Dostojewski

Der Jüngling


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die Sonne, die mir alles aufhellen soll. Sie kennen meine Lage nicht, Krafft. Ich bitte Sie inständig, mir die ganze Wahrheit zu sagen. Ich will nämlich wissen, was er für ein Mensch ist, und jetzt, gerade jetzt ist es mir wichtiger denn je, dies zu wissen.«

      »Ich wundere mich, daß Marja Iwanowna Ihnen nicht alles selbst mitgeteilt hat; sie hatte die Möglichkeit, alles von dem verstorbenen Andronikow zu hören, und hat es selbstverständlich auch gehört und weiß vielleicht mehr als ich?«

      »Andronikow ist, wie mir Marja Iwanowna ausdrücklich gesagt hat, selbst über diese Sache sehr im unklaren gewesen. Es scheint, daß niemand diese Sache zu entwirren imstande ist. Da wird kein Teufel draus klug! Ich weiß aber, daß Sie damals selbst in Ems waren ...«

      »Ich habe nicht alles mit angesehen, aber was ich weiß, will ich Ihnen meinetwegen gern erzählen; es fragt sich nur, ob Sie mit meiner Darstellung zufrieden sein werden.«

      Ich will seine Erzählung nicht wörtlich hersetzen, sondern nur in Kürze den Hauptinhalt angeben.

      Vor anderthalb Jahren war Wersilow durch Vermittlung des alten Fürsten Sokolskij ein Freund der Familie Achmakow geworden (sie befanden sich damals alle im Ausland, in Ems) und hatte auf diese einen starken Eindruck gemacht, und zwar in erster Linie auf den General Achmakow selbst, der noch kein alter Mann war, aber die ganze reiche Mitgift seiner Frau Katerina Nikolajewna während der drei Jahre ihrer Ehe am Kartentisch verspielt und infolge seines ausschweifenden Lebenswandels schon einen Schlaganfall gehabt hatte. Von diesem erholte er sich im Ausland; in Ems aber hielt er sich wegen seiner Tochter aus erster Ehe auf. Dies war ein kränkliches Mädchen von siebzehn Jahren, brustleidend, sehr schön, wie man sagt, dabei aber auch sehr exzentrisch. Eine Mitgift hatte sie nicht; man hoffte in dieser Hinsicht, wie gewöhnlich, auf den alten Fürsten. Katerina Nikolajewna war, wie man sagt, eine gute Stiefmutter. Aber das junge Mädchen faßte aus irgendeinem Grund eine besondere Neigung zu Wersilow. Dieser predigte damals »etwas Fanatisches«, nach Kraffts Ausdruck, ein neues Leben, er hatte »fromme Anwandlungen erster Güte«, nach Andronikows sonderbarem, vielleicht spöttischem Ausdruck, der mir mitgeteilt wurde. Aber merkwürdig war, daß alle bald aufhörten, ihn gern zu haben. Der General fürchtete sich sogar vor ihm. Krafft bestritt durchaus nicht die Wahrheit des Gerüchts, daß Wersilow es fertiggebracht habe, dem kranken Mann den Gedanken in den Kopf zu setzen, daß Katerina Nikolajewna dem jungen Fürsten Sokolskij gegenüber nicht gleichgültig sei (dieser war damals von Ems weggereist und hatte sich nach Paris begeben). Er habe das nicht geradezu getan, sondern »nach seiner Gewohnheit« durch Andeutungen, Anspielungen und gewundene Redensarten, »denn darauf versteht er sich meisterhaft«, sagte Krafft. Überhaupt muß ich sagen, daß Krafft ihn eher für einen Betrüger und geborenen Intriganten hielt und halten wollte als für einen Menschen, der wirklich von etwas Höherem erfüllt oder auch nur originell war. Ich aber wußte schon aus anderer Quelle als von Krafft, daß, nachdem Wersilow zuerst einen außerordentlichen Einfluß auf Katerina Nikolajewna gehabt hatte, es allmählich zwischen ihnen zu einem völligen Bruch gekommen war. Wie dieses Spiel im einzelnen vorgegangen war, das konnte ich von Krafft nicht erfahren, aber von dem beiderseitigen Haß, der nach der ursprünglichen Freundschaft zwischen den beiden entstanden war, haben mir alle meine Gewährsmänner übereinstimmend berichtet. Dann aber geschah etwas Seltsames: Katerina Nikolajewnas kränkliche Stieftochter verliebte sich anscheinend in Wersilow: entweder es imponierte ihr etwas an ihm, oder seine Reden hatten bei ihr gezündet, oder was da sonst für ein Grund vorhanden sein mochte: jedenfalls steht fest, daß Wersilow eine Zeitlang fast alle Tage bei diesem jungen Mädchen verbrachte. Die Sache endete damit, daß das junge Mädchen auf einmal ihrem Vater erklärte, sie wolle Wersilow heiraten. Daß sie das tatsächlich erklärt hat, haben alle bestätigt: Krafft und Andronikow und Marja Iwanowna und sogar Tatjana Pawlowna, die sich einmal in meiner Gegenwart verplapperte. Es wurde sogar versichert, daß Wersilow die Ehe mit dem jungen Mädchen nicht nur selbst gewünscht, sondern auch sehr energisch darauf gedrängt habe, und daß das Einverständnis dieser beiden ungleichartigen Personen, des gealterten Mannes und des jungen Mädchens, ein beiderseitiges gewesen sei. Aber den Vater erschreckte dieser Gedanke; er hatte in demselben Maße, in dem er sich von der früher so geliebten Katerina Nikolajewna abwandte, angefangen, seine Tochter beinah zu vergöttern, namentlich nach dem Schlaganfall. Als die erbittertste Gegnerin dieser geplanten Ehe erwies sich jedoch Katerina Nikolajewna selbst. Es fanden sehr viele geheime, sehr unerquickliche Zusammenstöße in der Familie statt, Zank und Streit, kurz allerlei garstige Szenen. Der Vater begann schließlich angesichts der Hartnäckigkeit seiner verliebten und von Wersilow »fanatisierten« (ein Ausdruck Kraffts) Tochter nachzugeben. Aber Katerina Nikolajewna setzte ihren Widerstand mit unerbittlichem Haß fort. Und gerade hier beginnt nun ein Wirrwarr, aus dem niemand klug wird. Ich gebe im folgenden Kraffts auf Tatsachen gegründete Vermutung wieder; indes ist auch dies eben nur eine Vermutung.

      Danach verstand es Wersilow in seiner feinen, unwiderstehlichen Art, dem jungen Mädchen die Meinung beizubringen, daß Katerina Nikolajewna mit der Ehe deswegen nicht einverstanden sei, weil sie sich selbst in ihn verliebt habe, ihn schon lange mit ihrer Eifersucht quäle, ihn verfolge, gegen ihn intrigiere, ihm bereits ihre Liebe erklärt habe und ihn jetzt am liebsten vergiften möchte, weil er eine andere liebe; kurz, so etwas Ähnliches sagte er. Das allergarstigste war aber, daß er darüber auch dem Vater, dem Mann der »treulosen« Gattin, Andeutungen machte, mit der Erklärung, die Sache mit dem Fürsten sei nur eine zeitweilige Zerstreuung gewesen. Natürlich wurde nun das Familienleben zur reinen Hölle. Nach einer Variante habe Katerina Nikolajewna ihre Stieftochter herzlich geliebt und sei nun in Verzweiflung darüber gewesen, daß sie dieser gegenüber in solcher Weise verleumdet worden sei, gar nicht zu reden von ihrem Verhältnis zu ihrem kranken Mann. Aber neben dieser Variante existiert noch eine andere, der zu meinem Leidwesen Krafft völligen Glauben schenkte und die – auch ich selbst für richtig hielt (von alledem hatte ich schon früher gehört). Es wurde nämlich behauptet (Andronikow soll es von Katerina Nikolajewna selbst gehört haben), es habe ganz im Gegenteil Wersilow schon früher, das heißt, ehe sich das junge Mädchen in ihn verliebte, Katerina Nikolajewna eine Liebeserklärung gemacht; von dieser, die früher seine Freundin, eine Zeitlang sogar seine schwärmerische Verehrerin gewesen sei, aber ihm doch nie so ganz getraut und ihm immer widerstrebt habe, sei Wersilows Liebeserklärung mit starkem Haß und giftigem Hohn aufgenommen worden. Sie habe ihn in aller Form hinausgeworfen, weil er ihr im Hinblick auf den bald zu erwartenden zweiten Schlaganfall ihres Mannes geradeheraus den Vorschlag gemacht habe, dann seine Frau zu werden. Auf diese Weise habe Katerina Nikolajewna einen besonderen Haß gegen Wersilow empfinden müssen, als sie nachher gesehen habe, daß er sich so offen um die Hand ihrer Stieftochter bemühte. Marja Iwanowna, die mir das alles in Moskau mitteilte, glaubte sowohl an die eine als auch an die andere Version, das heißt, sie glaubte alles zusammen: sie behauptete ausdrücklich, das habe sich alles zugleich zutragen können, das sei so etwas wie la haine dans l'amour, gekränkter Liebesstolz von beiden Seiten usw. usw., kurz eine Art von höchst subtiler romantischer Verwickelung, etwas, was jedes ernstdenkenden, vernünftigen Menschen unwürdig sei, noch dazu, wenn es sich mit Gemeinheit paare. Aber Marja Iwanowna hatte sich auch selbst von ihrer Kindheit an mit Romanen vollgestopft und las solche trotz ihres prächtigen Charakters Tag und Nacht. Als Resultat ergab sich, daß Wersilow sich der Gemeinheit, der Lüge, der Intrige, eines ganz schändlichen, abscheulichen Benehmens schuldig gemacht hatte, was um so schlimmer war, als die Sache tatsächlich einen tragischen Ausgang nahm: das arme, sinnlos verliebte junge Mädchen vergiftete sich, wie man sagt, mit Phosphorzündhölzern; indes weiß ich auch jetzt noch nicht, ob dieses letzte Gerücht wahr ist; jedenfalls suchte man es auf alle Weise zu unterdrücken. Das junge Mädchen war nur zwei Wochen lang krank und starb dann. Die Geschichte mit den Zündhölzern blieb infolgedessen zweifelhaft, aber Krafft glaubte auch daran fest. Dann starb bald darauf auch der Vater des jungen Mädchens, wie man sagt, aus Gram, der auch den zweiten Schlaganfall hervorgerufen haben soll; doch geschah das erst nach drei Monaten. Aber nach der Beerdigung des jungen Mädchens versetzte der junge Fürst Sokolskij, der aus Paris nach Ems zurückgekehrt war, Wersilow öffentlich im Kurgarten eine Ohrfeige, und dieser antwortete darauf nicht mit einer Herausforderung; vielmehr erschien er gleich am nächsten Tag auf der Promenade, als ob nichts vorgefallen wäre. Da nun zogen sich alle von ihm zurück, auch in Petersburg. Wersilow unterhielt zwar noch einigen Verkehr, aber in einem ganz anderen Kreis. Seine Bekannten