Harald Kanthack

EHER LERCHENJUBEL ALS UNKENRUF


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grundsätzlich tiefer angesiedelt. Es ist weniger wert, und die Menschen der vergangenen Epochen waren dann selbstredend auch viel dümmer. Da die Jugend den Ton angibt ( in Wirklichkeit sich aber auch nur der herrschenden Mode unterwirft), gilt dies als richtige Einschätzung. Zudem: um sich zu behaupten ist eine gehörige Portion Verachtung nötig. Wenn dann im Alter der Umkehrprozess einsetzt, man nicht mehr wächst, sondern abbaut, beginnt man aus dem gleichen Grund, die vergangene Zeit höher zu schätzen als die Gegenwart. Als die Alten noch den Ton angaben, galt das als richtige Beurteilung der Lage. In der Antike sehnte man sich nach den goldenen Zeiten längst vergangener Epochen zurück. Das Paradies lag zweifellos in der Vergangenheit.

      Die Annahme, die Menschen der Vergangenheit seien sogar intelligenter gewesen als wir heute, ist nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen. Dumme hatten eine geringere Chance, das Alter der Fortpflanzungsfähigkeit zu erreichen und wenn doch, sich dann auch fortzupflanzen. Die späteren Dummen dagegen leben seit geraumer Zeit in Umständen, die ihrer Regeneration besonders förderlich sind. Die Klugen haben die Rinder und die Dummen die Kinder. Das Ergebnis liegt vor.

      Aberglauben nennt man heute den vorchristlichen Glauben. Worunter aber doch eigentlich nur zu verstehen ist, mit dem Walten geheimer Naturmächte zu rechnen. Nun sind es gerade die gründlichsten Naturforscher, die zugeben, von den eigentlichen Mächten der Natur so gut wie nichts zu wissen und ungeklärten Naturphänomenen lediglich einen Namen geben zu können. Was man bezeichnen kann, glaubt man dann auch irgendwie zu kennen. Benannt ist aber nicht erkannt. Zudem ist mir noch kein Mensch begegnet, der nicht in der einen oder anderen Form das gewesen wäre, was man abergläubisch zu nennen pflegt. Und wird von den sogenannten Großen der Menschheit berichtet, dann übereinstimmend auch von ihrem ausgeprägten Hang zum Aberglauben.

      Bis heute weiß niemand, warum alles, was eine Hand frei gibt, nach unten fällt. „Du Tor, weil die Schwerkraft, auch Gravitation genannt, wirkt!“ Hast du nicht mehr zu bieten als diese zwei Bezeichnungen? Hast du die Gravitation schon einmal gesehen, das, was die Erde in ihrer Kreisbahn hält und dich nicht herunter, aber auf den Boden fallen lässt? Gerade die Hauptsache, die sieht kein Mensch, weder um sich noch in sich. Die Wortgebung suggeriert die Beherrschung des Unerklärlichen, ist nur ein Betäubungsmit tel; das auch deswegen so erfolgreich ist, weil Erscheinungen wie eben die Gravitation zum Frühesten gehören, mit dem der Mensch in Bekanntschaft tritt. Bevor er laufen kann, fällt er schon hin. Bums! Wieso sollte ihm das später rätselhaft und letztlich unerklärlich vorkommen?

      Und wenn ich in einem Vergleich Hilfe suche, indem ich sage, was in der belebten Natur der Egoismus, ist in der unbelebten die Anziehungskraft, so rede ich auch nur von Wirkungen. Von Wirkungen einer Kraft, ohne die nichts im Lot wäre und alles ohne Zusammenhang; deren umgekehrte Wirkung die Welt explodieren ließe. Und deren Wesen uns vollkommen unbekannt ist. Zwischen Erde und Mond ist ein Vakuum, so der Erkenntnisstand der Wissenschaft. Auf welchem Wege wird dann der Mond von der Erde angezogen? Haben er und die Erde einen aus ihrem Zentrum wirkenden Trieb, sich zu vereinigen?

      Was ist das, was der Rose ihre Formund Farbenschönheit verleiht, und ihren betörenden Duft? Wenn du antwortest, das liegt doch nur in unseren Rezeptionsorganen, verlagerst du das Geheimnis lediglich auf eine andere Ebene. Allein die Subjektivität, zu der die Natur ihre Lebewesen in Form des Menschen hat gelangen lassen, legt nahe, in der Natur nicht nur die bloße Natur der Physik zu sehen.

      Stellen wir nicht jedesmal resigniert fest, am Ende treibe nichts anderes als eine unerklärliche Kraft uns und alles die aber im Kosmos wirkt? Weil es sie gibt, und alles, was es gibt, dem Kosmos angehört. Wäre sie nur eine seltsame Kraft, wäre sie, wie alles Seltsame, auch zu erklären und womöglich schon erklärt worden. Sie ist aber nicht eine, die nicht häufig zu sehen ist (so die Grundbedeutung von seltsam), sondern sie ist überhaupt nicht zu sehen. Was wir von ihr sehen, sind lediglich ihre Wirkungen. Sie gehört dem Bereich des Universums an, den wir die unsichtbare Welt nennen, und gegen den unsere sichtbare Welt sich wohl ausnimmt wie ein Byte gegenüber allen in sämtlichen Computern der Welt gespeicherten Bytes aller Zeiten. Weil unsere fünf Sinne nur das herausfiltern, was für uns existenznotwendig ist — und das ist im Grunde, andererseits erfreulicherweise, verschwindend wenig.

      Über das Herausgefilterte wird dann munter theoretisiert, ohne – und das kommt bei allem noch hinzu – zu berücksichtigen, dass die Region des Universums, in der wir leben, eine ganz besondere sein könnte. Nämlich eine, die sich von allen anderen darin unterscheidet, das Vorhandensein von Leben zu ermöglichen.

      So munter wird theoretisiert, dass schließlich ganz vergessen wird, es gar nicht mit dem Objekt als solchem zu tun zu haben, sondern nur mit dem menschlichen Erkennen des Objektes. Wie wir sind, sehen wir die Dinge, nicht, wie sie sind. So erleben wir auch nicht, was wir erleben, wie wir es erleben, ist der Inhalt unseres Erlebnisses. Jede unserer Erfahrungen ist nur unsere Interpretation der Wirklichkeit. Eine Instanz, die eindeutig verkünden könnte, inwieweit diese Interpretation auch wirklich der Wirklichkeit entspricht, ist nicht vorhanden. Folglich auch nicht ausgeschlossen werden kann, unsere Auslegung der Wirklichkeit sei mit dieser im Einklang. Wenn dies auch keineswegs im Einklang stünde mit den armseligen Mitteln, mit deren Hilfe wir zu dieser Auslegung gelangt sind.

      Ebenso beschreibt die Physik nicht die Natur, wie sie ist, sondern gemäß den Fragen, die Physikern eingefallen sind. Bei jedem wissenschaftlichen Experiment sind die Experimentatoren nicht nur dabei, sondern mittendrin. Sie bestimmen das Ziel des Experimentes, sie bestimmen den Aufbau und die Durchführung, sie analysieren (und profanieren damit) das Ergebnis, und sie stellen fest, was daraus zu lernen ist. Ihr Feststellen ist gleichsam ein Bannen.

      Und da, wo es nicht um die Begegnung mit einem Objekt geht, sondern um uns selbst, um unser Dasein, wo die fünf Sinne sich nach innen richten müssten, aber nicht können, sind wir orientierungslos und haben bis heute nicht die Frage aller Fragen beantworten können: wer sind wir? Vielleicht deswegen nicht, weil wir übersehen, dass in dieser Frage schon die Antwort wohnt. Sie kann nämlich nur von Verrückten gestellt werden. Von solchen, welche von dem Pfad der übrigen Lebewesen auf einen anderen verrückt worden sind, der es erlaubt, sich selbst in Frage zu stellen.

      Die Frage „Wer bin ich?“ beantworten zu müssen mit „Ein Verrückter!“ zeigt das ganze Dilemma auf, in dem sich der Mensch befindet, sobald er zu viel nachdenkt. Und legt den Verdacht nahe, die Natur habe vermittels der Dummheit eine Schutzvorkehrung gegen das Verrücktwerden getroffen, die aber gelegentlich durchbrochen werde.

      Von Voltaire übrigens ist vorgeschlagen worden, unsere Wohnstätte, die Erde, für das Tollhaus der Welt zu halten. Und Lichtenberg sah nicht ein, warum, da der Mensch toll werden könne, es ein Weltsystem nicht auch werden könne. Und tatsächlich, die Tollheit könnte so riesige Ausmaße erreicht haben, dass keiner mehr übrig geblieben ist, der sie bemerken könnte.

      Wir spüren die Schwere des Steins, den wir anheben möchten, somit die Wirkung der Anziehungskraft der Erde. Die ungeheure Kraft, welche diesen Stein zusammenhält, nehmen wir dabei gar nicht wahr. Auch nicht die Kraft, welche den Mammutbaum 4000 Jahre lang bis zu einer Höhe von 100 Metern gegen die Schwerkraft anwachsen lässt. Was letztere in der Sekunde wett macht, in der sie mit seinem Sturz den Ausreißer zurückholt. Der erteilt der Erde noch einen Schlag und erhält gleichzeitig einen solchen zurück. Und von der Kraft, die das alles veranlasst, kennen wir lediglich den Namen – den aber haben wir selbst erfunden.

      Unsere Altvorderen würden in unserem Glauben an den Fortschritt und den Bibelgott vermutlich so etwas wie Aberglauben sehen. Über die Geschichte mit Gottes Sohn, auf zwei Balken genagelt, damit mit diesem, von Gott veranlassten Menschenopfer der Menschheit Sünde vergeben werde, hörte man wahrlich ihr durch das Echo der Höhlenwände mehrfach verstärktes Lachen. Ungemütlich würden sie wahrscheinlich erst werden, wenn wir ihnen den Gebrauch des Schädelbechers ausreden wollten. „Was?“ so womöglich ihr Protest, „ sollen unsere Verstorbenen nicht mehr angenehm und hilfreich beim lustigen Trinkgelage dabei sein dürfen?“

      Unsere frühen Vorfahren, so vermuten wir, waren in ihrem religiösen Bedürfnis noch nicht auf die Idee gekommen, einen einzigen allmächtigen Gott vorauszusetzen. Und wenn sie doch eine solche Überlegung