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Kapitel 1
Die Leiche schien vollkommen unversehrt. Wenn es hier doch nur nicht so verdammt kalt wäre, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre Finger wurden schon steif vor Kälte, da wärmten auch die leuchtend blauen Nitrilhandschuhe nicht, die sie übergestreift hatte. Auf was für eine dämliche Aktion hatte sie sich hier nur eingelassen.
Verstohlen um sich blickend, nestelte sie nervös und übervorsichtig am gerüschten Totenhemd der Leiche herum. Sie konnte weder verräterische Male am faltigen Hals der Toten entdecken, noch einen Y-Schnitt am Brustkorb, der auf eine Leichenöffnung schließen ließe. Nichts, absolut nichts, schien in irgendeiner Weise verdächtig zu sein.
Sie kam sich irgendwie albern vor. Ehrlich gesagt, sie kam sich so albern vor, wie noch nie in ihrem Leben. Der Impuls möglichst schnell das Weite zu suchen wurde übermächtig.
Plötzlich durchfuhr sie ein unangenehmes Frösteln. War es wirklich dermaßen saukalt hier oder war es eher die morbide Atmosphäre des Todes, die die Temperatur auf den Gefrierpunkt brachte? Inzwischen war sie endgültig bedient!
Sie streifte die Handschuhe ab und warf sie in einen diskret in der Zimmerecke stehenden Abfalleimer, der von verheulten Papiertaschentüchern überquoll und verließ den „Raum des Abschieds”. Ohne sich nochmals umzudrehen, eilte sie in die vorderen Geschäftsräume. Eine dünne, blasse Gestalt in schwarzem Anzug glitt lautlos auf sie zu und fragte mit professioneller Trauermiene:
„Haben wir alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt? Entspricht alles ihren Vorstellungen?”
Erschrocken zuckte sie zusammen - abwesend blickte sie den Bestatter an und nickte.
„Es ist soweit alles in Ordnung, bitte achten sie auf frischen Blumenschmuck bei der Trauerfeier.”
„Selbstverständlich, gnädige Frau", säuselte er in aufgesetzt mitfühlendem Ton, der Berufskrankheit aller Bestatter. „Stets zu ihren Diensten.”
Er schlich sich so lautlos davon, wie er gekommen war.
Plötzlich verursachte ihr die Atmosphäre Übelkeit.
Den schweren, süßlichen Duft der Lilien, vermischt mit Weihrauch und mehr als einem Hauch Desinfektionsmittel, vermochte sie keine Sekunde länger zu ertragen. Auch die lange, dürre Gestalt mit dem totenblassen Gesicht und dem schwarzen, pomadisierten Haar schien eher einem Vampirroman entsprungen, als dem normalen Leben. Erneut überkam sie eine Welle der Übelkeit.
Hastig stürzte sie zur Ladentür, hinaus auf die Straße und hielt nach einem Abfallbehälter der Berliner Stadtreinigung Ausschau. Diese Orangen dreckigen Dinger waren zwar meistens nicht zu finden, wenn man sie am Dringensten brauchte, aber
ein paar Meter die Straße runter erspähte sie das rettende Teil.
Sie legte einen Sprint hin, wie zum letzten Mal in der zehnten Klasse beim Sportabzeichen, nur dass sie damals keine High Heels getragen hatte. Sie kotzte so geräuscharm und diskret hinein, wie es ihr möglich war, nur ihre cremefarbene Seidenbluse bekam ein paar winzige Spritzer ab.
Erschöpft ließ sie sich auf eine Parkbank in der Nähe fallen. „Puh, das ist gerade noch mal gut gegangen!“, der Stoßseufzer kam ihr unwillkürlich über die Lippen. Keine Passanten in unmittelbarer Nähe. Dankbar schnappte sie nach Luft und ließ die frische Sommerbrise durch ihre Lungen strömen.
„Die Idioten von der Arbeitsagentur haben uns jemanden geschickt! Aus dem Spezial Vermittlungsprogramm für Syrische Geflüchtete zur beschleunigten Integration ins Arbeitsleben der Bundesrepublik.”
Die Stimme aus dem Telefonhörer schraubte sich höher und höher, bis sie in einem heiseren Gurgeln endete.
Ella hatte das Handy mit der Schulter ans Ohr geklemmt und drückte ihr Gesicht ins Kopfkissen.
Das