Йозеф Рот

Tarabas


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      7

      Von diesem Tage an begann sich die Welt des Hauptmanns Tarabas zu verändern. Seine Leute gehorchten nicht mehr wie zuvor, schienen ihn weniger zu lieben und weniger zu fürchten. Und züchtigte er einen von ihnen, so verspürte er einen unerklärlichen, unsichtbaren, unhörbaren Groll in den Reihen. Die Männer sahen ihm nicht mehr gerade in die Augen. Eines Tages verschwanden zwei Unteroffiziere, die besten Leute des Regiments, die mit Tarabas seit dem ersten Tage gekämpft hatten. Ihnen folgten eine Woche später ein paar Infanteristen. Aber der rothaarige Gottlose entfernte sich nicht, der einzige, dessen Desertion der Hauptmann Tarabas ersehnte. Es war im übrigen ein Soldat ohne Makel. Pünktlich und gehorsam war er. Aber selten erteilte ihm der Hauptmann Tarabas einen Befehl. Die anderen fühlten es. Ja, sie wußten es. Manchmal beobachtete Tarabas, daß der Rothaarige zu den Soldaten sprach. Sie hörten ihm zu, umringten ihn, lauschten. Tarabas rief einen Beliebigen zu sich. »Was erzählt er denn, der Rothaarige?« »Geschichten!«, sagte der Soldat. »Was für Geschichten?« »So, eben lustige Weibergeschichten!« Und Tarabas wußte, daß der Mann log. Aber er schämte sich, daß man ihn belogen hatte, und er fragte nicht weiter.

      Eines Morgens fand der Hauptmann bei seinem Burschen eine der bolschewistischen Broschüren, die er noch nie gesehen hatte. Er zündete sie mit einem Streichholz an, die Blätter brannten nur bis zur Hälfte ab, erloschen dann, und Tarabas warf sie wieder hin. Er beobachtete von nun an den Burschen aufmerksamer. »Stepan«, sagte er, »hast du mir nichts zu erzählen? – Wo ist deine Mundharmonika, Stepan, möchtest mir was vorspielen?« »Hab' sie verloren, Euer Hochwohlgeboren!«, sagte Stepan, demütig und traurig.

      Auch Stepan verschwand plötzlich, an einem Abend, kein Mensch wußte Auskunft zu geben.

      Der Hauptmann Tarabas ließ alle Welt antreten und verlas die Namen seiner Kompanie. Mehr als die Hälfte der Leute war desertiert. Den Rest ließ er eine Stunde exerzieren. Der Rothaarige exerzierte tapfer, fleißig, ohne Fehl, ein tadelloser Soldat.

      Ein paar Tage später, in der Stunde, in der Tarabas gerade mit dem Obersten und den übrigen Offizieren beriet, wie man die Desertionen verhindern könnte, erschien der Rothaarige, zwei Handgranaten im Gürtel, eine Pistole in der Hand, begleitet von zwei Unteroffizieren. »Bürger«, sagte der rothaarige Gottlose, »die Revolution hat gesiegt. Geben Sie die Waffen ab, Sie haben freies Geleit. Und Sie, Bürger Tarabas, und was sonst bei uns Ihre Landsleute sind, können in Ihre Heimat zurück. Einen eigenen Staat haben jetzt eure Leute.«

      Er war ganz still. Man hörte nur die große Taschenuhr des Obersten ticken, die auf dem Tisch lag, mit aufgeklapptem Deckel. Sie steppte die Zeit wie eine Nähmaschine.

      8

      Nachdem der Rothaarige mit seinen Leuten das Zimmer verlassen hatte, stand der Oberst auf, wartete einen Augenblick, als überlegte er irgendeinen Plan, als hätte er in dieser Stunde, da die ganze Armee, das Regiment, er selbst endgültig verloren waren, noch die Gnade eines rettenden Einfalls erfahren. Tarabas sah von seinem Sitz zum Obersten empor, mit einem fragenden Blick. Der Oberst wandte sich um. Er stieß den Sessel weg. Die solide, ledergepolsterte Lehne schlug dumpf auf den hölzernen Boden. Der Oberst ging ans Fenster. Sein breiter Rücken bedeckte fast den ganzen Rahmen. Tarabas rührte sich nicht. Plötzlich schluchzte der Oberst auf. Es klang wie ein kurzer, jäher, schnell erstickter Ruf, fremd, als käme er nicht aus der Kehle des Obersten, sondern unmittelbar aus dem Herzen; ja, als hätte das Herz eine eigene, eine ganz besondere Kehle, durch die es sein ganz besonderes Weh in die Welt rief. Die mächtigen Schultern hoben und senkten sich, eine Sekunde lang. Dann machte der alte Mann wieder kehrt und trat zum Schreibtisch. Er blickte eine Weile auf die große, aufgeklappte, unerbittlich-regelmäßig tickende Uhr, als sähe er zum erstenmal das hurtige Rucken ihres seinen Sekundenzeigers. Tarabas schaute ebenfalls auf die Uhr. Nichts regte sich in ihm, leer war sein Kopf, kalt war sein Herz. Er glaubte, es klopfen zu hören, es tickte im gleichen Rhythmus wie die Uhr auf dem Tisch. Nichts hörte man sonst. Es war Tarabas, als wäre schon eine unendlich lange Zeit seit dem Abgang des Rothaarigen vergangen.

      Schließlich begann der Oberst: »Tarabas«, sagte er, »nehmen Sie diese Uhr zum Andenken!«

      Der Oberst zog sein Taschenmesser heraus und öffnete den rückwärtigen Deckel. Er las die eingravierte russische Inschrift: »Meinem Sohn Ossip Iwanowitsch Kudra« und zeigte sie Tarabas.

      »Ich habe die Uhr bekommen, als ich die Kadettenschule verließ. Mein Vater war sehr stolz. Ich auch. Ich komme aus ganz kleiner Familie. Der Vater meines Vaters noch war Leibeigener der Zarizyns gewesen. Ich war mein Leben lang kein besonderer Soldat, Hauptmann Tarabas! Ich glaube, ich war faul und nachlässig. Es gab viele solcher Offiziere bei uns. Wenn Sie mir die Ehre erweisen, diese Uhr anzunehmen, Bruder Tarabas?«

      »Ich nehme sie«, sagte Tarabas und erhob sich. Der Oberst klappte beide Deckel zu und reichte die Uhr Tarabas über den Tisch. Dann stand er noch eine Weile da, den grauen Kopf gesenkt. Dann sagte er: »Pardon, ich will nach meinen Sachen sehn!« – ging langsam um den Tisch, an Tarabas vorbei, zur Tür hinaus.

      Im nächsten Augenblick knallte ein Schuß. Er hat sich erschossen! dachte Tarabas im Nu. Er öffnete die Tür. Der Oberst lag ausgestreckt neben der Schwelle. Er mußte sich zuerst vorsorglich hingelegt und dann erst erschossen haben. Sein Rock war geöffnet. Das Blut sickerte durch das Hemd. Die Hände des Toten waren noch warm. Noch lag der Zeigefinger der Rechten am Hahn der Pistole.

      Tarabas löste die Waffe aus der Hand des Obersten. Dann faltete er die Hände des Toten über der Brust.

      Ein paar Soldaten umstanden die Leiche und den knienden Tarabas. Sie nahmen die Mützen ab, wußten nicht, was sie hier sollten, blieben aber stehen.

      Tarabas erhob sich. »Wir werden ihn sofort begraben, hier, vor dem Haus«, befahl Tarabas. »Richtet ein Grab! Hierauf antreten. Mit Gewehr! Ruft den Konzew!«

      Der Feldwebel Konzew kam. »Es bleiben mir nur sechsundzwanzig Mann«, sagte er.

      »Alle antreten!«, befahl Tarabas.

      Zwei Stunden später begrub man den Obersten, zehn Schritte vor dem Tor des Hauses. Sechsundzwanzig Mann, der ganze treue Rest des Regiments, feuerte auf Tarabas' Kommando dreimal in die Luft. Sechs armselige Doppelreihen machten kehrt.

      Tarabas aber marschierte an ihrer Spitze, als führte er noch ein ganzes, ein unversehrtes Regiment; er war keineswegs entschlossen, den Untergang seiner Welt, das Ende des Krieges, anzuerkennen.

      Mit den sechsundzwanzig Männern, von denen einige seine Landsleute waren, trat Tarabas den Weg in die Heimat an, in die neue Hauptstadt des neuen Landes. Hier hatte man in der Eile funkelnagelneue Minister, Gouverneure, Generäle ernannt und gar hastig eine provisorische, kleine Armee gebildet. Es gab einen großen Wirrwarr im Lande; zwischen Machthabern und Bewohnern des Landes, und auch unter den Machthabern selbst herrschte Verwirrung. Tarabas aber, erfüllt von unermüdlicher Lust zum Abenteuer und einer ehrlichen, heißen Gehässigkeit gegen die vielen Ämter und Beamten, gegen Kanzleien und Papiere, war entschlossen, sein Leben fortzusetzen. Er war Soldat, nichts anderes. Er hatte seine sechsundzwanzig Getreuen hierhergebracht, die sechsundzwanzig, denen der Krieg, wie ihm selber, die einzige Heimat gewesen war und denen er, wie sich selbst, eine neue Heimat schuldete. Mit diesen sechsundzwanzig ein ganzes neues Regiment zu begründen welch eine Aufgabe für einen Tarabas! Er war nicht der Mann, sich selbst das Leben zu nehmen, wie der brave Oberst. Die Weltgeschichte, die da von alten Vaterländern winzige neue absplittern ließ, ging den Hauptmann Tarabas gar nichts an. Solange er lebte, wollte er den sogenannten Willen der Geschichte nicht kennen. Er hatte seinen sechsundzwanzig Rechenschaft abzugeben. Was bedeutete ihm der neue Kriegsminister eines neuen Landes? Weniger als ein Gefreiter seiner eigenen Kompanie!

      Er begab sich zum Kriegsminister, wohlgerüstet, schwer bewaffnet, von seinen sechsundzwanzig Getreuen gefolgt, Diener, Schreiber und Kanzlisten, die ihn nach seinem Begehr fragten, durch donnernde Befehle einschüchternd, im Vorzimmer schon mächtiger als der Minister selbst. In diesem erkannte er allerdings nach einigen Worten einen Vetter seiner Familie mütterlicherseits.