waren und ihm hätten Rechenschaft ablegen müssen. Ein Konsens herrschte jedoch darüber, dass eine schicksalhafte Ergebenheit und einem Verneigen vor den Jahrhunderten gebrochener Geschichte der falsche Weg sei. Egal was am Ende des Weges auch geschähe, jeder Einzelne müsse die Schranke durchbrechen, die für ihn errichtet worden sei.
Und tatsächlich wurde der Strom der Pilger so gewaltig, bis eines Morgens die erst noch schwache rote Glut der aufsteigenden Sonne sichtbar wurde, die mit jeder Minute stärker und stärker wurde, bis sie die ganze Welt umfing und das Fahle wegwischte.
Ende
Am Grab
Hier an Deinem Grab sind die Blumen von der Trauerfeier am Verwelken. Fast ausschließlich weiße Rosen in verschiedenen Arrangements beherrschen den Blumenschmuck. Ohne die Lippen zu bewegen, spreche ich mit Dir. Der Nachklang meiner Worte erreicht hoffentlich Dein Ohr im Äther, Deine große Welt, die wir oft genug zusammen im Geiste durchstreift haben.
Manchmal hatten wir uns nahe des sogenannten „Altonaer Balkon“ auf den Rasen gesetzt und waren mit den Augen den großen Containerschiffen gefolgt, die so still die Elbe hinauf- und hinabzogen. Manchmal war es darüber zu einem Sonnenuntergang gekommen. Der Sonnenball hatte an Stärke verloren, sich zu karminrot abgeschwächt, bis er langsam und unaufhaltbar auf der anderen Seite der Elbe hinter den Kränen und Containerstapeln in einer Hülle von weinrot verschwunden war und es zu einem verschluckenden Dunkel, dem letzten Aufzucken des Tages, dem Abschied, geführt hatte.
In diesen Momenten sprachen wir nur wenig, sondern ließen unseren Gefühlen freien Lauf. Wie sehnsüchtig Du den Schiffen hinterherschautest. Augenblicklich denke ich, Du hast damals Deine eigene Reise vorweggesehen. Vermutlich hast Du gedacht: Die Schiffsrouten sind unseren Lebenswegen ähnlich, besitzen diese stets einen Zielhafen auf ihrer langen Reise und haben auf dem Weg dorthin große Unwägbarkeiten zu bewältigen. Plötzlich auftauchende Riesenwellen, die die Boote zu überstürzen drohen oder gefährlich ins Wanken bringen, undurchdringliche Nebel, die die Orientierung oder Navigation erschweren, Winde, Strömungen, welche das Ziel kurzzeitig schwingend undeutlich werden lassen. Nicht anders ergeht es doch jedem Menschen in seinem Leben. Waren diese Häfen Dein Ziel als eine Zwischenstation oder war es die Sucht nach dem Jenseits, dem Unbekannten als Auflösung oder Erlösung? In Träumen, so sagt man, löst sich letztlich jede Schwierigkeit auf. Wer hat es nicht selbst bereits einmal erlebt, todesdrohende Situationen durchlebt, die sich unrealistisch, traumhaft auflösten, um sie im Wachen als eine positive Erfahrung mitnehmen zu können als ein psychologischer Trick oder eine Überlebensstrategie unseres Daseins. Oder Lösung für grundlegende Lebensfragen? Ein Wechselbad der Gefühle zwischen Traum und Wirklichkeit.
Liebe Tochter,
Dich zog es seit geraumer Zeit mit großen gedanklichen Schritten zum Jenseits hin. Jedenfalls gab es Ansätze dazu in unseren Gesprächen, wahrzunehmen. Es waren sprechende, sinngefüllte plötzlich auftauchende Riesenwellen, die Dich gleichsam in den Bann zogen wie aus der Bahn warfen. Doch wen eigentlich von Euch beiden. Dich oder Deinen Zwilling? Damit hast Du häufig in mir Verwirrung gestiftet. Ja, ich denke, Du wusstest es selbst nicht einmal mehr. Einerseits standst Du mit beiden Beinen fest im Leben, während Dein Zwilling bereits eilte und nur noch dem Erfolg hinterherhechelte. Der damit verbundenen dunklen Seite den Ansporn gab, noch mehr und stärker in Dir zu wirken wie ein wunderbar dunkelglänzender Niederschlag, der so unfasslich schön sein kann und gleichsam verführerisch übersinnlich ist. Schuldgefühle besitzen darin keinen Platz. Es gab immer eine Erklärung, mit der Du Dich selbst zufrieden stellen konntest.
„Vater“, hast Du mich gefragt, „denkst Du das wir im Jenseits alle gleich sind? Ich möchte das nicht. Ich bin etwas Besonderes!“
Damals habe Dir geantwortet:
„Gott ist so weise, dass er auch dafür eine Lösung gefunden hat. Vielleicht liegt sie darin, dass er den Besonderen außergewöhnliche Aufgaben überantwortet. Doch was das Äußere, das Sichtbare betrifft, sage ich Dir, die wunderschöne Kleidung, den Schmuckglanz benötigst Du dort nicht mehr. Dies sind irdische Dinge, die für irdischen Glanz sorgen. Ja, es werden an Dich gestellte Aufgaben sein, die Dich vor anderen auszeichnen.“
In diesen Momenten huschte stets ein kurzes Lächeln über Dein Gesicht, erstarrte kurz darauf wieder. Einerseits, weil Du keinen Verzicht üben wolltest. Andererseits vermutlich, weil Du meinen Worten Glauben schenktest, obgleich ich auch nur meine Vermutungen aussprechen konnte. Wir wussten es damals beide nicht. Jetzt hingegen wirst Du es wissen. Jedoch zeigte sich, dass Deine Liebe den sogenannten schönen Dingen galt, dem Glanz des Geldes erlegen war, jedoch nicht die Menschen betraf, mit denen Du Dich umgabst, besser, die sich mit Dir umgaben.
Einmal, ich erinnere es sehr genau, wir saßen in einem Restaurant zusammen, sagte ich zu Dir:
„Clodia, Du kannst nicht lieben, Du vermagst nur zu quälen!“
Entsetzt schautest Du mich daraufhin an.
„Wie meinst Du das, Vater?“
„Weil Du in Deinen Männern Qualen erzeugst und hinterlässt. Du ziehst die Männer in Deinen Bann mit Deinem Wesen, erfüllst aber deren Fantasien nicht. Nein, ich verbessere mich. Du bist noch viel extremer: Du forderst und saugst sie aus. Du wirkst in ihnen wie eine Droge, der sich Deine Freunde nicht entziehen können. Du besitzt die Anziehungskraft des Außergewöhnlichen (sie lächelte bei meinen Worten). Vielleicht schreibst Du damit Märchen für Erwachsene, die sich eben nicht wie normalerweise in Liebe auflösen, sondern nur Qualen hinterlassen. Die Sucht nach Dir ohne Aussicht auf Erfolg. Jedoch die Hoffnung darauf hältst du viral (wieder lächelte sie). Hast Du Dich jemals gefragt, was Du damit bewirkst und was Du für ein Spiel spielst?“
Doch anstatt wörtlich zu antworten, fingst Du damals laut zu lachen an. Es signalisierte Deine Haltung und beschrieb, unwidersprochen, welches Spiel Du triebst und auch, dass Du es wirklich als ein Spiel ansahst. Von Deinen Lippen konnte ich damals ablesen: Wenn die Männer so dumm sind?
Mir schwante in diesem Augenblick nichts Gutes. Auch dass ich Deinen Weg als Irrweg ansah, hatte ich Dir damit zu verstehen gegeben. Damals reifte in mir der Gedanke, für Dich einen Brief, eine Geschichte zu schreiben, den ich dann Wochen später verfasste. Kein zweites Mal haben wir ein solches Gespräch geführt. An diesem Abend war alles von meiner Seite ausgedrückt worden.
Mit ihrem 27. Geburtstag hatte ich die ersten Veränderungen bei Dir bemerkt. Mit den ersten größeren beruflichen Erfolgen trafst Du eine Entscheidung, nur noch sogenannte „High Brands“, die teuerste Kleidung, zu tragen. Ganz stolz kamst Du in Hermes gekleidet und präsentiertest Dich darin wie ein Pfau, der die Federn auffächert.
„Vater, mit meinen neuen Kunden muss ich mich besser kleiden. Sie empfinden es als sehr angenehm, jedenfalls werde ich seitdem noch mehr mit Komplimenten überhäuft.“
„Bitte übertreib nicht“, sagte ich zu Dir. Du hast erst Dein 27. Lebensjahr vollendet und feierst erste Erfolge. Sei nicht so ungeduldig!“
„Das gleiche hast Du auch gemacht“, war Deine Antwort.
„Ja, Liebes, nur im Unterschied zu Dir war ich bereits knapp vierzig.“
„Die Zeiten haben sich geändert, Vater! Sie sind schnelllebiger geworden. Das Karussell des Erfolgs dreht sich schneller!“
Ich antwortete Dir damals nicht, sondern wir feierten ausgelassen Deinen Geburtstag. Jedoch von diesem Zeitpunkt an betrachtete ich meine Tochter genauer. Irgendetwas musste in ihr vorgegangen sein, als ein Auslöser. Nur beruflicher Erfolg? Oder steckte mehr dahinter? Liebes, Du hast es mir nie erzählt. Mit der Kleidung wechselten auch Deine Bekanntschaften. Die Herren wurden älter. Einige davon waren, so schätzte ich, bereits in meinem Alter und hätten leicht Dein Vater sein können. Zu alt! Dein wirtschaftlicher Erfolg legte rapide zu. Beides, High Brands und Erfolg schienen wunderbar zusammengewachsen zu sein. Scheinbar hattest Du auf das richtige Pferd gesetzt.