Carsten Wolff

Clodia


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wenn ich zu Dir sagte:

      „Du hast Dich zu einer Grenzgängerin entwickelt und bist zu jung für derartige Auftritte!“ antwortetest Du mir spontan:

      „Dessen bin ich mir bewusst. Ich kann damit sehr gut umgehen, Vater!“

      Wenn ich mit Dir einkaufen ging, verneigten sich bildhaft die teuren Boutiquen vor Dir. Namentlich warst Du ohnehin überall bekannt. Kein Wunder, denn Du ließest Unsummen dort. Und wenn nicht Du, dann einer Deiner Begleiter.

      Einmal, wir saßen bei einem Tee zusammen, geschah folgendes. Mehrfach klingelte Dein Handy. Jedoch diesmal standst Du auf und entferntest Dich ein paar Schritte weg von mir, sodass ich nichts von Deinen Worten verstehen und auch nicht dem Gespräch folgen konnte. Als Du zurückkamst, bemerktest Du lakonisch:

      „Geschäftlich, Vater, ich wollte Dich damit nicht langweilen!“

      Diese Situation war speziell und mir unbekannt. Nicht einmal zuvor hattest Du dieses Verhalten gezeigt. Ich vergaß diese Szene schnell und erfreute mich an diesem gemeinsamen schönen Nachmittag. Jedoch auf dem Nachhauseweg schoss mir das heiße Blut in den Kopf. „geschäftlich“ hattest Du gesagt. Was bedeutete es? Du hattest stets in meiner Gegenwart geschäftlich telefoniert und Dich dabei mit einer Handbewegung entschuldigt. Häufig zogst Du Deinen Laptop oder Unterlagen hinzu. Diesmal warst Du spontan aufgestanden, hattest Dich entfernt und warst hastig hin und her gelaufen. Meine Gedanken wogten und lehnten sich instinktiv gegen Deine Worte auf. Eine kleine Lüge? Bald beruhigte ich mich wieder.

      Ich höre Schritte hinter mir. Eine alte Dame hat sich mir fast unbemerkt genähert. Sie blickt zu mir hinunter, betrachtet das Grab ruhig, lässt ihren Blick langsam über jeden einzelnen Gegenstand gleiten. Abrupt dreht sie sich ab.

      „Zu früh!“

      Ruhig geht sie ihren Weg weiter. Der leichte Wind träg noch ein unverständliches Gemurmel zu mir herüber. Dann verliert sie sich hinter ein paar alten Bäumen zur Unsichtbarkeit.

      „Zu früh“, hat sie gesagt. Ja, ich habe es ganz deutlich verstanden. Wie kommt sie darauf? Sie hat das Alter von Clodia gelesen und interpretiert. Die alte Frau kennt doch nicht die Umstände und sagte: „Zu früh!“ Zu früh für was? Zu sterben? Weiß sie mehr? Ich möchte der Frau hinterherlaufen und sie fragen. Wenn Gott mir keine Auskunft erteilt, wieso spricht diese Unbekannte diese Worte aus. Ich versinke ins Grübeln.

      Der Mensch fügt sich und verfügt. Es hängt stets von ihm selbst ab, die Begierden, die tagtäglich auf ihn eintrommeln, unter Verschluss zu halten oder ihnen nachzugeben. Dass sich der Mensch in seinen Charakteranlagen seit seiner Existenz nicht geändert hat, nicht ändern kann, hat die Bibelschreiber veranlasst, Todsünden zu definieren. Gier oder Habgier ist eine von diesen. Wobei die Zielrichtung nicht eindeutig ist, sondern sich auf viele Dinge beziehen kann, es dem Ziel wie ein Preisschild angehängt und fest verbunden ist. Einzig die Dichtkunst vermag den Konflikt zu lösen. Sie kann den Ausgleich schaffen, indem sie ihm die richtigen Worte überstülpt. Das Elend, welches wir tagtäglich erfahren müssen, wäre ohne diese ordnende Kraft unerträglich. Auf Clodias Trauerfeier wurden viele schöne Worte gesprochen. Sie haben meine Gedanken abgemildert und Ordnung darin geschaffen. Denn schon war ich zum Sprung bereit, mich wie ein Berserker auf den Nächsten zu stürzen und ihn für ihren Tod zur Verantwortung zu ziehen. Nein, ich konnte mich bändigen, wie schwer es mir auch gefallen ist.

      Ich habe Clodias Tod akzeptiert, allein mir fehlt das Verständnis und eine Erklärung. Mittlerweile bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass ich sie selbst in mir bergen muss. Wie soll ich daran gelangen? Ich bin doch kein Vulkan, der bei einem Ausbruch sein Innerstes nach außen spuckt. Also muss ich geduldig sein, bis es von allein in meinen Kopf gerät.

      Clodia! Ich liebe und vermisse Dich!

       *

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