Lene Levi

Tödlicher Nordwestwind


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kletterte über die Leitersprossen der Spundwand hinauf und gab oben vom Kai aus Schortens ein Handzeichen. Der Maat war nicht gerade begeistert, als Jan auf dem gleichen Weg hinunterkletterte und das Schiffsdeck betrat.

      Robert wandte sich an Enno: „Haben Sie nicht Lust auf einen Pott Kaffee? Wir könnten einen kleinen Spaziergang zum Kurhaus machen.“

      „Das hat aber jetzt noch nicht geöffnet. Die Besitzer machen den Laden immer nur an den Wochenenden auf.“

      Robert sah auf seine Armbanduhr. Heute war Donnerstag. Das hatte er vergessen. Dann lachte er:

      „Na, dann hat sich wenigstens in dieser Beziehung nichts verändert. Früher war das auch schon so.“

      Die beiden Männer nahmen den Trampelpfad über die Wiese und gingen an dem stillgelegten Leuchtfeuer vorbei. Nach wenigen Minuten erreichten sie den Sandstrand vor der Geestkante. Robert betrachtete den gewölbten und massiven Damm aus rotem Backstein, der eine Art künstliche Schutzmauer gegen drohende Sturmfluten bildete. Auf dem darauf angelegten Areal standen das Alte Kurhaus und die vom Zahn der Zeit reichlich in Mitleidenschaft gezogenen Nebengebäude.

      „Ich habe es gleich bemerkt, dass Sie sich hier ganz gut auskennen, Herr Kommissar.“

      „Sagen wir mal so: Ich verbinde mit diesem Ort einige sehr schöne Erinnerungen. Auch wenn das schon lange zurückliegt.“

      „Aber das ist sicherlich nicht der Grund, weshalb Sie sich mit mir unterhalten wollen, oder?“

      „Eigentlich schon. Ich hatte nämlich an dem Tag, als wir uns das erste Mal begegneten, ganz einfach vergessen zu fragen, ob Sie zufällig mit meinem alten Schulfreund Jülf Fedder verwandt sind.“

      „Mit Jülf? Na klar. Das ist mein Vater.“

      „Wie geht es ihm?“

      „Soweit ganz gut. Aber seitdem er den alten Laden vor einigen Jahren schließen musste, ist nicht mehr viel los mit ihm.“

      „Jülf und ich, wir kennen uns schon seit unserer Kindheit. Er hatte doch damals das Lebensmittelgeschäft der Großeltern übernommen. Oder besser gesagt, übernehmen müssen, denn im Grunde konnte er damit gar nicht viel anfangen. Sein Traum war doch immer Kunstmaler zu werden.“

      „Ach, wissen Sie. Die Leute kaufen heutzutage ihre Sachen in Supermärkten. Der kleine Tante-Emma-Laden der Familie Fedder rentierte sich irgendwann nicht mehr. Der ehemalige Laden ist deshalb seit ein paar Jahren eine Ferienwohnung. Jülf kümmert sich darum.“

      „Und malt oder zeichnet er denn noch?“

      „Kunst ist doch Scheiße, Herr Kommissar. Wenn Sie wissen, was ich meine.“

      „Hat aber eine lange Tradition, und ganz besonders hier in Dangast.“

      „Mag wohl sein. Bringt aber kein Geld ein.“

      Sie waren den von der Tide geglätteten Sandstrand entlang gegangen. Wenige Meter vom Ufer entfernt stand im seichten Wasser ein hölzerner Königsthron mit der Inschrift »Kaiser Butjatha« und in seiner unmittelbaren Nähe, direkt an der Hochwassergrenze, ragte ein drei Meter hoher Phallus aus Granit aus dem Sand, den ein Aktionskünstler dort eingegraben hatte. Dieses Ding sorgte in den 80er Jahren für Furore und ganze Heerscharen prüder Spießer auf die Palme gebracht. Robert gab der Skulptur im Vorbeigehen einen wohlgemeinten Klaps, da er sich darüber freute, dass der Phallus allen Stürmen und Fluten bislang getrotzt hatte. Nach wenigen Metern erreichten die beiden Männer die steile Treppe, die direkt vom Watt über die alte backsteinerne Strandmauer hinauf zum Alten Kurhaus führte. Als sie auf der obersten Stufe ankamen, lehnten sie sich zuerst an das weißgestrichene Metallgeländer und warfen einen Blick auf den fast menschenleeren Strand und über den ganzen Jadebusen, über dem eine flimmernde Luftschicht lag.

      Robert entdeckte plötzlich eine aufgestellte Bildtafel, die eine Gemäldereproduktion des Brücke-Malers Max Pechstein zeigte. Der Künstler hatte das Bild 1910 unten vom Strand aus gemalt. Das Bildmotiv stellte genau jene Stelle dar, an der sie jetzt standen. Auf der Abbildung leuchteten das Alte Kurhaus und die klinkerrote Schutzmauer in satten Farbschattierungen. Darüber wölbte sich ein wolkendurchpflügter Sommerhimmel. Die restliche Szenerie zeigte ein Farbenspiel aus Grüntönen der üppigen Vegetation des Geestrückens. Unterhalb der Mauer am Strand war das von Salzgras und Schlickpflanzen bewachsenen Wattufer gut zu erkennen. Zwei einfache Klappstühle hatte der Maler in die untere linke Bildecke platziert. Die baugleichen altmodischen Sitzmöbel standen noch heute im Vorgarten des Lokals. Für Robert war es eine Botschaft aus einer fernen Welt.

      „Wann wurde denn diese Tafel aufgestellt?“, erkundigte er sich.

      „Keine Ahnung. Vor etwa zwei oder drei Jahren. Der hiesige Tourismusverband hatte sich durch den Dangaster Kunstpfad mehr Attraktivität versprochen. Davon wurden noch mehrere hier in der Umgebung aufgestellt. Wenn Sie möchten, kann ich sie Ihnen zeigen.“

      „Danke. Vielleicht ein andermal.“

      Enno wurde langsam ungeduldig. Der Kommissar wollte ihn ganz bestimmt nicht unter vier Augen sprechen, um mit ihm über Kunst zu plaudern.

      „Herr Kommissar, kann ich nun wieder zu meinem Kutter zurück?“

      Doch Robert reagierte nicht auf seine Frage. Im Gegenteil, die Brücke-Maler ließen ihn noch nicht los.

      „Hier begegneten die Maler einer mächtigen Natur, einer herben Landschaft. Sie erlebten die Baumblüte, kurz und heftig, die Stürme, welche die Deiche zernagten und die Menschen daran erinnerte, wie klein sie sind. - Sehen Sie mal, als Pechstein dieses Gemälde hier malte, war es für die damaligen Kunsthändler und Galeristen keinen Pfifferling wert. Und heute ist es eine Ikone der Kunst des 20. Jahrhunderts. Mit Geld kaum noch zu bezahlen.“

      „Aber Ikonen kann man nicht essen.“

      Ennos Bemerkung klang weniger erstaunt, sondern vielmehr erschöpft und frustriert.

      „Ich weiß, die wirtschaftliche Situation sieht ziemlich mies aus. Und ganz besonders hier oben im Nordwesten.“

      „Das war schon immer so“, bestätigte Enno ganz lapidar Roberts Feststellung.

      „Und trotzdem haben Sie sich einen Krabbenkutter gekauft und sind hier geblieben.“

      „Was hätte ich denn sonst auch tun sollen? Ich bin jetzt über dreißig und war vorher etliche Jahre arbeitslos.“ Enno verdrängte diesen schrecklichen Gedanken aus seinem Kopf. „Weglaufen war nie mein Ding.“

      „Bestellen Sie bitte Ihrem Vater einen schönen Gruß von mir. Ich würde ihn gern mal besuchen.“

      „Richte ich ihm aus, Kommissar. War´s das?“

      „Nein, noch nicht ganz. Kommen Sie. Setzen wir uns für einen Moment.“

      Die beiden Männer waren ganz allein im Vorgarten des alten Lokals. Sie suchten sich zwei der verwitterten Gartenstühle und wählten sich einen schattigen Platz aus.

      Jetzt die richtigen Worte zu finden, fiel Robert schwer: „Es gibt da ein paar Hinweise von der Rechtsmedizin. Sie haben zum Beispiel an der Kleidung und auf der Haut des Toten einige Spuren entdeckt, die auf ein Seil hindeuten, an dem der Ertrunkene möglicherweise festgebunden war. Ich frage mich nun schon die ganze Zeit, ob nicht doch noch was anderes mit im Fangnetz hochgehievt wurde. Vielleicht irgendein Ballastgegenstand, ein Stein an einem Seil oder ähnliches.“

      Enno gab sich plötzlich überrascht. Robert nickte ihm zu und fuhr fort: „Wissen Sie. Als ich die Leiche auf dem Kutterdeck besichtigt habe, ist mir jedenfalls nichts aufgefallen. Auch auf meinen Fotos konnte ich nichts dergleichen entdecken. Und jetzt kann ich mir darauf keinen rechten Reim machen.“

      Enno, der bisher geschwiegen hatte, wirkte nachdenklich: „Also, wenn Sie mich so genau danach fragen, Kommissar, fällt es mir wieder ein. Ja, da war auch ein kleiner Anker mit dabei. Der war mit einem Kunststoffseil an dem Bein des Toten festgezurrt.“

      Robert nickte wieder, diesmal lebhafter. Er stellte seine Frage eher behutsam: