Nicole Sturm

Lilli


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fährt ruhig mit dem Daumen über ihre Kehle.

      Ich kenne Menschen wie Sie. Sie räumen nach dem Henker auf. Sie schlafen neben der Burgmauer und warten auf den Abfall. Sie sind ein Mönch der nicht glaubt. Sie bringen keine Frucht.

      Ich … ich kann ihnen nicht folgen.

      Lilli sieht den Museumswärter zum ersten Mal an.

      Sie werden mir folgen, garantiert.

      29.September

      Das ist ein fucking Horrorfilm. Meine verfickte Fresse, hast du sowas schon mal gesehen? Leck mich fett!

      Scheiße, ich glaub ich muss kotzen.

      Das sag ich dir, wenn das keine Einzeltat ist, schreibt irgend so ein Typ ein Buch darüber und dann kommt noch ein Film dazu. Actionfiguren, Bettwäsche, der ganze Scheiß. Ich verspreche dir, ich sag keinem wenn du kotzt, aber … ach was laber ich, natürlich erzähl ich das dem Autor. Kotz am besten nicht in das Blut.

      Wie krank muss man sein?!

      Ich sag dir wie krank. Erstmal musst du so krank sein jemanden mit einem Schürhaken das Gesicht zu zertrümmern, dann musst du so krank sein die Leiche vollständig zu häuten, das reicht aber natürlich noch nicht, du musst aus der Haut einen Mantel schneidern, die Leiche auf einen scheiß Stuhl setzen und ihr dann den Mantel aus der eigenen Haut wieder anziehen. So krank musst du sein. Das erinnert mich an den Kunstunterricht in der Grundschule.

      Glaubst du es war ein militanter Tierschützer oder so etwas?

      Selbstmord war es auf jeden Fall nicht. »Pelzhändler bestialisch von Veganer gehäutet!« Das ist doch was für die Titelseite. Es gibt echt kaputte Leute.

      Ein junger Polizist tritt auf die beiden zu. Er ist sichtbar angewidert vom Anblick der Leiche und versucht den Blick von ihr zu wenden.

      Ich habe alle Kameras kontrolliert.

      Ja und? Spuck's aus!

      Das Frühstück klopft gegen die Speiseröhre des Neulings als sein Blick wieder auf die Leiche fällt.

      Es sind alles nur Attrappen.

      Hervorragend! Einbruchsspuren?

      Nein, aber die Putzfrau sagt eines seiner Autos ist nicht mehr da. Ist schon alles raus an die Zentrale.

      Was für ein Auto?

      29.September

      Lilli streift sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und fährt das Fenster ein Stück herunter. Die Ader auf der Stirn des brüllenden Polizisten ist kurz vorm Platzen.

      Wissen Sie wie schnell Sie gefahren sind?!

      Ihr Blick streift eiskalt über die Kante des Glases.

      Ja.

      J … Ja? Wollen Sie mich … Geben Sie mir ihren Führerschein und die Papiere! Sofort!

      Schläfrig sieht sie in den Rückspiegel. Hinter dem Wagen wartet der zweite Beamte mit der Hand an der Dienstwaffe.

      Und wenn ich mich weigere?

      Sie fährt das Fenster wieder hoch.

      Fahren Sie … Ich glaub es nicht … Fahren Sie sofort das Fenster wieder runter! Sie zwingen mich dazu ihre Scheibe einzuschlagen.

      Mit weißen Handknöcheln zieht er den Schlagstock aus dem Halfter.

      Ich sage es jetzt zum letzten Mal, steigen Sie aus dem Wagen oder ich schleife Sie heraus!

      Lilli lässt das Fenster wieder runter. Die Stimme des Beamten dröhnt in das Wageninnere.

      Steigen Sie aus dem Auto!

      Sie wirft den glühenden Zigarettenanzünder gegen seine Jacke und fährt das Fenster wieder hoch. Dem Polizisten brennt die Sicherung durch. Er holt aus und schlägt mit voller Wucht gegen die Scheibe. Sein Handgelenk zersplittert wie Glas. Vor Schmerz lässt er schreiend den Schlagstock fallen. Lilli fährt das völlig intakte Fenster einen Spalt runter.

      Rauchen tötet!

      Sie drückt aufs Gas und lässt die Männer am Straßenrand stehen.

      Hinterher!

      Was ist mit deiner Hand?

      Noch bevor er seinem Kollegen antworten kann, platzen alle vier Reifen ihres Dienstwagens gleichzeitig.

      30.September

      Schönen guten Abend.

      Guten Abend, der Herr.

      Der stämmige Herr, Mitte dreißig, setzt sich neben den fremden, gut gekleideten Mann. Der Bus ist ansonsten vollkommen leer, aber er muss sein Glück teilen. Er zieht ein Ultraschallfoto aus der Hemdtasche und zeigt es seinem eleganten Sitznachbarn mit dem schwarzen Hut.

      Sehen Sie mal, mein erstes Kind.

      Da gratuliere ich ihnen herzlich.

      Er reicht dem werdenden Vater lächelnd die Hand.

      Wissen Sie, wir hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben, aber der Herr hat uns erhört. Haben Sie auch Kinder?

      Oh ja, ich habe zwei, einen Sohn und eine Tochter.

      Herrlich, das wünsche ich mir auch, aber auch eines ist schon ein kleines Wunder. Ich hoffe es kommt nach meiner Frau, wenn es ein Mädchen wird.

      Was den Charakter angeht, kommt meine Tochter direkt nach mir. Sie hat sich sehr viel Respekt erkämpft, ich war nicht immer fair zu ihr, aber ich wollte, dass sie etwas Außergewöhnliches aus ihrem Leben macht.

      Sind Sie stolz auf sie?

      Oh ja, sie kennt keine Gnade. Ich kann mich noch daran erinnern, als sie ihren ersten Zahn bekommen hat. Sie heißt Lillith, aber sie will nur Lilli genannt werden.

      Ich finde Lillith ist ein sehr schöner Name.

      Wussten Sie, dass es der erste war?

      Wie meinen Sie das?

      Mit dem Daumen drückt er seinen Hut einen halben Zentimeter die Stirn hoch und sieht durch das Fenster auf einen parkenden Krankenwagen und das rotierende Blaulicht. Gelassen drückt er auf den Halteknopf.

      Am sechsten Tag schuf Gott Adam. Die Menschen interpretieren diesen Moment meistens sehr abwegig. Adam bedeutet »Der Erste«. Das bedeutet aber nicht der erste »Mann«, sondern der erste »Mensch«. Und bevor Gott den Menschen teilte, schickte er einen anderen Menschen. Gott gab Adam keinen Namen. Den ersten Namen, den er einer Seele gab, war Lillith. Und danach kam Eva. Wissen Sie, dieser Bus fuhr schon, bevor Sie eingestiegen sind und er wird weiterfahren wenn Sie aussteigen. So ähnlich ist es mit der menschlichen Wahrnehmung.

      Ich fahre bis zur Endstation.

      Da war ich schon. Ist nicht mein Ding. Hier ist meine Haltestelle, lässt der werdende Vater mich durch?

      1.Oktober

      In der Hölle gibt es einen Ozean. Kein Leben existiert in ihm. Keine Welle hat es je durchzogen. Es ist klar und süß. Seine Strände sind schwarz und kahl. Ohne Unterarme und Unterschenkel krabbelt ein Verdammter, dem man den Mund zugenäht hat, auf seinen Stümpfen, durch den dunklen, heißen Sand. Sein Körper schüttelt sich. Drei Schritte hinter ihm steht Lilli. In ihrer linken Hand liegt ein Haken, wie ihn Wilderer benutzen, die Robben schlachten.

      Wenn du es bis zum Wasser schaffst bist du frei.

      Zentimeter für Zentimeter quält sich der Verdammte voran.

      Du hast