Nicole Sturm

Lilli


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      Du bist durstig, nicht wahr?

      Der Verdammte fällt in den Sand.

      Es ist immer das gleiche mit euch. Es sind nur noch ein paar Schritte. Die Freiheit liegt direkt vor dir. Komm schon, du darfst in den Himmel.

      Als hätte ein elektrischer Schlag den Körper durchfahren, erhebt sich der verstümmelte Körper und robbt weiter Richtung Wasser. Lilli hebt den Haken über ihren Kopf.

      Das Wandern ist des Müllers Lust … komm sing mit!

      Einen halben Meter bevor er die Freiheit erreicht, schlägt sie den Haken in seinen rechten Oberschenkel. Sein stummer Schrei fliegt über das regungslose Meer. Lilli dreht sich um und zieht ihn mühelos hinter sich her.

      Der Herr hat euch so viele Tiere gegeben, köstlich und kleidsam, aber ihr müsst ja alles töten, was einen Puls hat. Nach der Geschichte mit dem Löwen haben wir auf dich gewartet, als der Elefant dazu kam wurden einige von uns kreativ, aber die Robbe war zu viel, da haben wir angefangen auf deinen Tod hinzuarbeiten.

      Der Verdammte starrt verzweifelt auf den Ozean.

      Eine Robbe. Welcher Hundesohn, erschießt denn eine Robbe? Was stand als nächstes auf der Liste, eine Galapagos Schildkröte? Meine Fresse! Ich sag es dir, wenn wir hier fertig sind, wird sich mein Bruder um dich kümmern und glaub mir, ich bin noch nett zu dir, Damian macht dich fertig! Er kann Menschen die Katzen töten nicht ausstehen, egal ob man sie in einen Sack steckt und ertränkt oder sie abknallt. Mein Bruder ist da empfindlich.

      Sie lauscht kurz seinen Versuchen genug Luft durch die Nase zu bekommen, während sie ihn weiter und weiter vom Meer wegschleift. Hinter dem Verdammten landet ein Dutzend blutroter Raben und hüpft auf ihn zu. Sie picken auf ihn ein und ziehen ihm Haare samt Kopfhaut aus dem Schädel. Lilli kann sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen.

      Eine Robbe! Was für ein Bastard!

      1.Oktober

      Es sind nur noch wenige Minuten bis der Laden für getrocknetes Unkraut und Astrologie seine Pforten schließt. Lilli tritt mit kalten Regentropfen auf ihren Schultern in das kleine Geschäft neben dem verlassenen Pornokino. Das Windspiel an der Tür ist verstimmt. An dem runden Tisch zwischen den staubigen Regalen stehen zwei Stühle und zwei abgenutzte Hocker. Auf dem einzigen gepolsterten Sitzplatz sitzt Madame Papillon. Sie gleicht jedoch nicht im Geringsten einem Schmetterling, der Stuhl unter ihr kann Geschichten davon erzählen.

      Bitte setzen Sie sich. Ich bin Madame Papillon. Ich habe die Antworten auf all ihre Fragen.

      Können Sie in die Zukunft sehen?

      Ich sehe die Zukunft und die Geisterwelt. Ich kann direkt in Ihre Seele sehen.

      Lilli setzt sich, legt ihren Arm auf die schwere Tischdecke und dreht die Handfläche nach oben.

      Erzählen Sie mir etwas über meine Zukunft.

      Die Wahrsagerin sieht die Linien auf Lillis blasser Hand. Madame Papillons Mimik dreht sich. Normalerweise hätte sie die helle Haut und die weichen Finger gedeutet. Als nächstes wäre Sie auf das Fehlen eines Eherings eingegangen, aber der Anblick des deutlich erkennbaren Pentagramms in der Handfläche ihrer Kundin, lässt die leicht unterbelichtete Hellseherin erschaudern. Die Luft im Raum bleibt stehen. Überfordert fängt sie an zu stottern.

      I … I … Ich, ich sehe …

      Ein unscharfes Bild flackert vor ihrem geistigen Auge auf. Die Wahrsagerin bekommt es mit der Angst zu tun, doch sie gibt sich große Mühe sich nichts anmerken zu lassen. Das Bild kommt wieder, doch dieses Mal ist es klar.

      Ich sehe eine … ja, ich sehe eine Schaukel.

      Madame Papillon kann nicht in die Zukunft sehen, das konnte sie nie. Sie hat den Leuten nur erzählt was sie hören wollten, aber heute sieht sie wirklich etwas und versucht es hektisch zu deuten.

      Vielleicht treffen Sie den richtigen Mann und werden schwanger.

      Die Hellseherin sieht erwartungsvoll in Lillis starre Augen. Plötzlich fluten Bilder von Bergen aus Totenschädeln durch ihren Verstand.

      Oh, Gott!

      Sie sieht den Galgen und erkennt die herabhängenden Ketten. Auf dem Querbalken steht eine weibliche Gestalt, gehüllt in einen langen schwarzen Mantel mit weiter Kapuze. In ihrer Hand hält sie eine große Sense mit Widerhaken.

      Ich sehe die Hölle.

      Das Bild verschwindet und sie sieht in Lillis hypnotisierenden Blick. Die Wahrsagerin zieht die Hand weg und atmet tief durch.

      Hast du meine Sense gesehen?

      Sense? Ja.

      Wie sah sie aus?

      Madame Papillon braucht einen Moment um das passende Wort zu finden.

      Furchteinflößend.

      Die Tischdecke zerreißt genau in der Mitte und fällt links und rechts zu Boden. Die Tischplatte fängt Feuer, die gierige Flamme zieht einen Kreis entlang des Randes. Die Wahrsagerin springt vor Schreck auf. Lillis Handrücken liegt noch immer in der Mitte des Tisches, doch die Flammen fließen an ihr vorbei.

      Wir sind noch nicht fertig, setz dich wieder hin!

      Aber … aber das Feuer.

      Was denkst du ist gefährlicher, ich oder das Feuer?

      Ängstlich setzt sich Madame Papillon wieder auf den Stuhl.

      Nimm meine Hand, Seherin!

      Die Flammen vor ihr weichen zurück und bilden eine Gasse zu Lillis Hand. Zitternd streckt die Wahrsagerin ihren Arm über den Tisch und berührt Lillis Finger. Als die Augen der faltigen Frau sich nach oben drehen, erlischt das Feuer auf dem Tisch. Lilli drückt ihre Fingernägel in die fremde Hand. Der Körper des Mediums verkrampft.

      Sag mir was du siehst!

      Der Tisch zerbricht in der Mitte und klappt zusammen.

      Ich sehe eine Kreissäge.

      Blut rinnt aus Madame Papillons Augen. Lillis Fingernägel bohren sich noch tiefer in das zitternde Fleisch.

      Und ich sehe Blut, Regen aus Blut.

      2.Oktober

      Ich muss ehrlich gestehen, dass ich beeindruckt bin.

      Der junge Handwerker wird ein klein wenig verlegen.

      Danke sehr. Es war viel Arbeit, aber ich hätte nichts lieber getan. Die Schnitzereien waren sehr aufwendig, es hat sieben Monate gebraucht und erst die »Tränenkanäle« im Holz, doch die ganzen Schläuche durch die Stützen zu bekommen war das schwerste, das hat mich fast in den Wahnsinn getrieben. Doch jetzt ist es endlich fertig und nun verstehe ich auch warum Sie das dunkle Holz wollten. Es passt hervorragend zum Interieur.

      Lilli legt ihre Hand auf das fast schwarze Holz.

      Und Sie haben alles so gemacht wie ich es ihnen gesagt habe?

      Ja, ich habe keine Fotos gemacht, ich habe alle Reste entsorgt und niemanden davon erzählt. Ich weiß ihre Privatsphäre zu schätzen.

      Und die Pumpen?

      Die Pumpen sind so stark damit können Sie Ahornsirup durch die Schläuche jagen.

      Gut. Das ist wirklich gut.

      Der künstliche Regen wird gleichmäßig über das Bett verteilt und wird mit der Zeit immer stärker. An den Rändern fließen doppelt so starke Vorhänge aus was auch immer sie durch die Pumpen schießen wollen.

      Der euphorische Handwerker muss kurz Luft holen.

      Ich weiß es ist unprofessionell, aber ich muss es einfach loswerden. Ich wünsche Ihnen und wem auch immer, den Spaß ihres Lebens. So einen