Catherine St.John

Ein undurchsichtiger Gentleman.


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      „Du bist wirklich ein verdorbenes Ding!“

      „Aber Charlotte!“ Lady Norton war eingetreten und warf ihrer Ältesten einen strafenden Blick zu. „Warum bist du so unfreundlich zu Annabelle? Annabelle, wie war es in London?“

      „Sehr schön, vielen Dank der Nachfrage, Lady Norton. Aber offenbar hätten Mama und ich entweder keine Wäsche kaufen oder das zumindest nicht erwähnen dürfen.“

      „Warum? Jede junge Braut wird sich doch etwas Hübsches für ihre Hoch- ihren neuen Ehestand kaufen wollen.“

      Lady Norton war etwas Farbe ins Gesicht gestiegen und Susans erneute Frage danach, was denn nun lasziv bedeute, vertiefte die Röte nur noch.

      „Lasziv – nun… sagen wir es so: Wenn sich eine Frau lasziv benimmt, ist sie nicht ganz so sittenstreng, wie man es sich wünschen würde.“

      Susan nickte nachdenklich, dann sah sie wieder auf: „Und was hat das mit modischen Nachthemden zu tun?“

      Charlotte schnaubte empört.

      „Eigentlich gar nichts“, versicherte Lady Norton. „Wo habt ihr denn so etwas eingekauft, Annabelle?“

      Beide Mädchen erkannten dies sofort als Ablenkungsmanöver, aber Annabelle ging dennoch artig darauf ein: „Bei Madame Lacroix. Wundervolle Stoffe, Spitze, Stickereien – Mama und ich haben wirklich geschwelgt. Zuerst war ich ja etwas ängstlich, weil ich dachte, es gibt nur das übliche kratzige Leinen, aber dann – nichts ist so leicht und weich wie Seide!“

      „Unanständig!“, schnaubte Charlotte.

      Lady Norton blitzte sie streng an. „Charlotte, würdest du bitte aufhören, dich wie eine dieser schottischen Puritanerinnen zu benehmen! An Seide ist nichts Verwerfliches, sie eignet sich nur nicht für junge Mädchen. Annabelle wird in wenigen Wochen eine verheiratete Frau sein – Stephens Frau! – dann darf sie auch Seide tragen, so oft es ihr beliebt.“

      „Heirate doch einen Pfarrer! Am besten in Schottland!“, legte Susan noch nach.

      „Susan!“

      „Ich bitte um Entschuldigung, Mama.“

      „Bitte auch bei Charlotte!“

      „Sie hat aber doch angefangen!“, stritt Susan sofort, als sei sie etwa zehn und nicht nahezu zwanzig.

      „Deshalb musst du dich nicht genauso benehmen“, verfügte ihre Mutter also – in einem Ton, der Susan verdeutlichte, dass nichts mehr zu diesem Thema gewünscht wurde.

      „Und du warst im Theater?“, wechselte sie also folgsam das Thema. Charlotte setzte wieder zu einem Schnauben an, fing den Blick ihrer Mutter auf und räusperte sich.

      Annabelle sah betont nicht zu Charlotte, die wahrscheinlich auch das Theater für unmoralisch hielt – was bitte hieß denn eigentlich unmoralisch? – und berichtete artig von der Aufführung, nicht ohne hinzuzufügen, dass London wohl sehr aufregend sei, sie sich aber nur auf dem Lande – hier – wohlfühlen könne.

      „Ach, Stephen wird sicher ab und zu mit dir nach London fahren“, vermutete Susan sofort.

      Charlotte murmelte etwas, was wie Sündenbabel klang.

      „Na, dich werden sie schon nicht mitnehmen, also kannst du ganz unbesorgt sein!“, konnte Susan sich nicht zurückhalten.

      „Susan!“, tadelte Lady Norton routinemäßig.

      „Ich entschuldige mich, aber dieses Gerede ist wirklich nicht auszuhalten!“

      Annabelle räusperte sich und begann sich zu verabschieden, da ja die Reise nach London Charlottes düsterste Befürchtungen geweckt hatte. Was um des Himmels Willen stellte sie sich unter London nur vor? Sie hatte doch einst auch eine Saison gehabt? Was da wohl vorgefallen war? Vielleicht war es aber doch nur ihre natürliche Strenge?

      Sie schlenderte den Weg zwischen Norton House und Beech House entlang und kam zu dem Ergebnis, Susans Idee, Charlotte solle doch einen schottischen Geistlichen heiraten, sei zwar rüde, aber doch in der Sache gar nicht so verkehrt.

      Vielleicht gab es puritanisch denkende Geistliche ja auch hier in England, dann musste Charlotte nicht nach Schottland ziehen. War es dort nicht sehr kalt und einsam?

      Sie wusste wirklich gar nichts! Richard war doch einmal in Schottland stationiert gewesen – sie würde ihn fragen, wenn er wieder einmal auf Urlaub nach Hause kam, aber das konnte noch länger dauern, und bis dahin war sie wahrscheinlich längst verheiratet.

      Unsinn, tadelte sie sich, dann würde sie eben die gleichen paar Schritte wie jetzt tun und ihre Familie in Beech House besuchen. Sie sollte sich nicht so sinnlos den Kopf zerbrechen, sondern lieber den herrlichen Tag genießen!

      Die Sonne schien, einige kleine weiße Wölkchen zogen über den Himmel, alles Grün wirkte saftig und gesund und auf einer der Wiesen, die noch zu Norton House gehörte, pflückte die alte Bess Simms Kräuter für ihre Medizinen.

      Gut, dass sie in modernen Zeiten lebten! Früher hätte man Kräuter-Bessie dafür wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt, dabei konnten ihre Rezepturen manchmal tatsächlich helfen, bei Prellungen und Verstauchungen etwa. Einnehmen wollte das Zeug freilich keiner…

      Niemand war außer Bessie zu sehen.

      Ach doch, dort hinten ritt jemand. Wer konnte das wohl sein? Stephen hatte schwarzes Haar, genauso wie Susan und Charlotte. John gefiel sich in einem braunen Tituskopf, aber der Mann dort hinten war blond. Nun, vielleicht hatten die Nachbarn Besuch. Der Herzog konnte es natürlich auch sein, Ashford war eher hellhaarig, aber er saß viel besser zu Pferd.

      Ach, was ging es sie denn an?

      Sie schlenderte weiter, aber ihre entspannte Stimmung hatte sich etwas getrübt, ohne dass sie sagen konnte, woher das rührte.

      Beim Mittagessen war sie immer noch gedankenverloren, obwohl sie sich nun selbst eingeredet hatte, dass sie nur Ashford gesehen hatte. Zunächst unterhielten Lady Horbury und John sich angeregt über die Angelegenheiten des Besitzes, ab und zu durch kurze Einwürfe Seiner Lordschaft angereichert.

      Schließlich fragte Annabelle dann doch nach dem Herzog.

      „Ashford?“, brummte ihr Vater. „Der ist zu seiner Schwester gefahren, um seine Tochter zu besuchen. Ich verstehe gar nicht, warum diese Elaine nicht auf Lynham lebt, Simon und Victoria könnten doch sehr gut für sie sorgen.“

      Seine Frau stimmte ihm zu. „Jetzt hätte Lady Elaine ja auch hier Spielkameraden. Ich meine, der kleine Justin ist ja schon da, und bald bekommen sie noch ein Kind…“

      Annabelle verfolgte das Gespräch nicht weiter; Ashford war also gar nicht hier, sondern bei seiner Schwester… sie wusste zwar, dass diese Schwester Lady Mary hieß, aber nicht, mit wem sie verheiratet war und wo sie lebte. Wer war es denn dann gewesen, den sie gesehen hatte? Und warum beschäftigte sie diese Frage überhaupt?

      „Annabelle? Annabelle!“

      Sie schreckte hoch. „Ja? Verzeihung, ich war geistesabwesend.“

      „Denkst wohl an deinen Stephen?“ John natürlich!

      „So wie du an deine Hester“, gab sie sofort zurück.

      „Touché“, grinste er.

      Sie war froh, dass ihre Eltern nicht weiter nachfragten, und beschäftigte sich angelegentlich mit ihrem Dessert.

      Als sie mit Stephen durch ihr künftiges Haus gewandert war, hatte sie sich nicht unbehaglich gefühlt, das stand einmal fest. Nur in London, vor allem nach dem Theaterbesuch. Und vorhin, auf dem Heimweg aus Norton. Warum bloß? Alles war doch völlig in Ordnung gewesen, herrliches Wetter, eine friedliche Atmosphäre – und außer Charlotte hatte sich auch niemand unangenehm verhalten. Von Charlotte war man das aber doch gewohnt?

      „Wisst ihr eigentlich, warum Charlotte Norton so bissig ist?“, fragte sie also, was sie selbst nur logisch fand.