entzogen und sich sodann zusätzlichen »Arbeitskarzer« einhandelten. Das führte zu großen Spannungen zwischen ihnen und Vater, denn der scheute sich nicht, die Proteste und Aufsässigkeit meiner größeren Geschwister mit Brachialgewalt zu brechen.
Ich selbst war von diesem Reglement bis zu meiner Einschulung befreit und hatte bis dahin nur zu gehorchen, zu essen was auf den Tisch kam und zu wachsen. Keines meiner ausgewachsenen Geschwister ist unter Einmeterachtzig. In der Schule war ich sodann der lange Lulatsch und wurde deswegen oft gehänselt - später bei der Bundeswehr mit Einmeterneunzig rechter Flügelmann, hatte ich auch dort zu leiden.
Vater und Mutter wuchsen in Schneidemühl auf und hatten dort, wie ich später aus ihren Erzählungen erfuhr, eine schwere Jugendzeit. Mutter erzählte oft, dass sie bereits als dreizehnjährige Zigarrendreherin zum Unterhalt ihrer Familie beitragen musste. Mein Vater war aktiver Soldat im ersten und spät im zweiten Weltkrieg »Volkssturmmann«. In jungen Jahren den Spartakusbund hofierend sowie eingeschriebenes SPD-Parteimitglied der ersten Stunde, machte er auch im Dritten Reich aus seiner sozialistischen Gesinnung nie einen Hehl.
Mutter behauptete später immer: „Dass euer Vater nicht in eines der damaligen Konzentrationslager wegen seiner sozialistischen Gesinnung eingesperrt wurde, hat er nur mir, meinem »Goldenen Mutterkreuz« und euch vielen Kindern zu verdanken“.
Bis hierhin ergeben die Fakten das Bild eines preußisch, bürgerlich gefestigten Ehepaares, das aber, wie sich noch zeigen wird, seine dem Nationalismus angepasste opportunistische Lebensart nur vortäuschte; denn Anfangs unterschwellig, später offen heraus - aber nur wenn Vater angesäuselt war - und lange geduldet von seinem Dienstvorgesetzten, Amtsgerichtsrat Dr. Funk, nutzte der Justizhauptsekretär seinen angeborenen Mutterwitz und seinen »Pommerschen Dickschädel« erfolgreich, um sich den ständigen Forderungen des Ortsgruppenleiters nach Beitritt in die NSDAP zu entziehen, ließ sich aber auf den vereidigen, den die Vorsehung als Führer auserkoren hatte.
Heute weiß man, es war ein schwerer Geburtsfehler der Weimarer Republik gewesen, dass die Revolutionsbewegung niedergeschlagen wurde, dass grundlegende Reformen unterblieben. Von Anfang an habe die Weimarer Republik kaum eine Überlebenschance gehabt, sagen die Historiker. Wer einmal in Frankreich den Nationalfeiertag via Fernsehen oder direkt erlebt hat, der weiß, was historisch gewachsenes bürgerliches Selbstbewusstsein ist, was es heißt, Identität aus selbstverständlichen revolutionären Traditionen zu beziehen. Natürlich erstürmen die Franzosen die Bastille nicht jedes Jahr aufs Neue aber sie feiern das Ereignis, doch ist das Bewusstsein von Macht und Stärke des französischen Volkes lebendig bis ins kleinste Dorf. Und bei uns? Bei uns ist alles anders, wie man heute weiß. Somit darf festgestellt werden, der deutsche Nationalstaat wurde nicht in der Frankfurter Paulskirche geschaffen, sondern von Bismarck als kleindeutsche Lösung mit »Blut und Eisen«.
Dass danach irgendwann eine Revolution gewesen sein soll, würden die meisten Bundesbürger, das ist des nunmehr alten Knaben feste Überzeugung, bestreiten – jedenfalls im Westen Deutschlands. Die Novemberrevolution 1918 ist in des Deutschen Geschichtsbewusstseins genau so lebendig wie die Geschichte von 1933 - 1945. Denn in der Nachkriegsschulzeit war das Thema Hitler und die Nazizeit tabu. Warum eigentlich? Man kann sich aus seiner Geschichte nicht einfach davonstehlen und im Übrigen; Wahrheit befreit. Und der späte Knabe Sigurd Adolf ward ein wenig traurig und missmutig über die scheinheilige Geschichtsbetrachtung der damaligen Erwachsenen. Aber noch bestand meine Geschichtsbetrachtung und Lebensauffassung aus der Massower Schulzeit, meinem älteren Schulfreund Eberhard und der Hitlerjugend.
Die Schule war aus. Über dem mit weißen Kalksteinen und einem großen roten Kreuz gepflasterten Hof - die Schule war als Reservelazarett vorbereitet - strömten die Scharen der vom Unterricht Gestressten heraus aus der Schulhofpforte, teilten sich und eilten nach rechts und links. Die großen Schüler trugen mit Würde ihre Büchertasche unter dem linken Arm geklemmt, indem sie mit dem rechten Arm wider den Wind dem Mittagessen entgegen ruderten. Das Jungvolk setzte sich lustig in Trab, die Arme ausgebreitet, Flugzeuggebrumm und Stukaflieger imitierend – denn einer unserer ehemaligen Mitschüler war inzwischen Träger des Ritterkreuzes mit Eichenlaub und Schwertern und damit einer der hoch dekorierten jungen Kampfflieger bei Reichsmarschall Hermann Göring und das spornte das Jungvolk an, es ihm gleichtun zu wollen, wobei die sieben Sachen der Pädagogik in den Schultornistern klapperten. Und hier und da rissen einige der Schüler mit glühenden Augen den rechten Arm, die rechte Hand gestreckt zum Hitlergruß empor und riefen dem mit Hut, steifem weißen Kragen und Führerbart gemessen nach Hause schreitenden Rektor zu: „Heil Hitler“!
„Kommst du endlich?“ sagte ich zu meinem besten Schulfreund, denn ich hatte lange auf dem Bürgersteig vor der Schule auf ihn gewartet; lächelnd trat ich meinem Freund Eberhard Pommerenke entgegen, der im Gespräch mit anderen Schulkameraden aus der Pforte kam und schon im Begriff war, mit ihnen davon zu gehen.
„Wieso, fragte er und sah mich fragend an“. Ach, ja, eben fällt es mir wieder ein! Nun gehen wir noch ein bisschen zusammen. Ich blieb stumm und ertappte mich dabei, wie sich meine Augen trübten. Hatte Eberhard es vergessen, fiel es ihm jetzt erst wieder ein, dass wir vor dem Mittagessen ein wenig zusammen spazieren gehen wollten? Und ich selbst hatte mich seit unserer Verabredung beinahe unausgesetzt darauf gefreut!
„Ja, machst gut ihr“! sagte Eberhard Pommerenke zu seinen Klassenkameraden.
„Ich gehe noch ein bisschen mit Sigurd Kröger“.
Und wir beide hatten Zeit spazieren zu gehen, weil wir Familien angehörten, in denen erst um zwei Uhr zu Mittag gegessen wurde; weil dadurch die Kaffezeit eingespart wurde. Unsere Väter waren Honoratioren, die öffentliche Ämter bekleideten und geachtet waren in der Stadt. Den Pommerenkens gehörte schon seit Menschengedenken die Gärtnerei mit dem Saatzucht-Betrieb unten am Massower See sowie das Wein-Kontor in der Stadt und ihren Lieferwagen mit dem breiten schwarzen Firmenaufdruck konnte man Tag für Tag durch die Straßen kutschieren sehen; und ihr großes altes Haus war das herrschaftlichste in der Stadt. Meine Eltern lebten in einer großen, schönen Dienstwohnung im größten und imposantesten Haus der Stadt, dem Amtsgericht, wo mein Vater als Gerichtsvollzieher - bei den Wohlhabenden anerkannt, bei den Armen gehasst und deshalb im Volksmund »Der Vollstrecker« genannt – sowie als Urkundsbeamter und Bürovorsteher tätig war. Beständig mussten wir beide der vielen Bekannten wegen, unsere Mützen vom Kopf ziehen und von manchen Leuten wurden wir Buben sogar zuerst gegrüßt. Wir hatten unsere Schultaschen über die Schulter gehängt, und waren stets gut gekleidet, denn Kleider machen Leute, wie unsere Eltern immer sagten. Eberhard Pommerenke in einem grauen, feinem Mantel, ich in einer kurzen Jacke. Auf dem Kopf trug Eberhard eine große Marinemütze mit kurzen Bändern, unter denen der Schopf seines blonden Haares herausquoll. Er war von auffallender Statur, breit in den Schultern und schmal in den Hüften, mit frei liegenden und scharf blickenden strahlenden, blauen Augen. Ich sagte nichts; weil ich Wut empfand und deshalb meine buschigen Brauen zusammenzog und meine Lippen zum Pfeifen gerundet hielt, blickte ich seitwärts geneigten Kopfes beleidigt in die Weite. Dies war meine Haltung, wenn mir etwas gegen den Strich ging. Und Eberhard ging mir heute gewaltig gegen den Strich, denn er hatte mich offensichtlich vergessen.
Plötzlich schob Eberhard seinen Arm unter dem meinen und sah mich dabei von der Seite an, denn er ahnte sehr wohl, was in mir vorging. Und obgleich ich auch bei den nächsten Schritten noch schwieg, war ich auf einmal sehr versönlich gestimmt.
„Ich hatte unsere Verabredung nicht vergessen, Sigurd, sagte Eberhard verlegen und blickte vor sich nieder auf den Bürgersteig, sondern ich dachte nur, dass heute doch wohl nichts daraus werden könnte, weil es ja so heiß und schwül ist“. Aber mir macht das nichts aus, und ich finde es prima, dass du trotzdem auf mich gewartet hast. Ich glaubte auch schon, du seiest nach Hause gegangen und ärgerte mich bereits. Ich geriet innerlich vor Zorn in Wallung bei dieser scheinheiligen Ausrede.
„Ja, lass uns jetzt gehen! Sagte ich mit bewegter Stimme; über die alten Wallanlagen in Richtung Bahnhof bringe ich dich nach Hause, Eberhard, Gott und Führer mit uns - es schadet gar nichts, dass ich dann meinen Heimweg allein mache; das nächste Mal begleitest du mich nach Hause; ist doch klar, manich“?
Im Grunde glaubte ich nicht allzu sehr an das was Eberhard gesagt hatte und fühlte