Sigurd Marx

Der Schrei des Maikäfers


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keine Reitstunden, Kröger“? fragte Silbermann, und seine Augen waren ein paar blanke hämische Ritzen… „Nein“… antwortete ich mit undeutlicher Betonung.

      „Du solltest, bemerkte Eberhard Pommerenke, deinen Vater bitten, dass du auch Reitstunde bekommst, Kröger“.

      „Ja, ja“ sagte ich hastig und gleichgültig. Einen Augenblick schnürte es mir die Kehle zusammen, weil Eberhard mich mit Nachnamen angeredet hatte; und Eberhard schien dies auch zu spüren, denn er sagte erläuternd: „Weißt du, ich nenne dich Kröger, weil dein Vorname so altertümlich klingt, du, entschuldige, aber ich mag ihn nicht. Sigurd Adolf… Das sind doch überhaupt keine schönen Vornamen. Aber du kannst ja nichts dafür, manich“!

      „Nein, du heißt wohl so, weil er schön nordisch altdeutsch klingt und trotzdem etwas Besonderes ist… Sigurd; besser wäre Sigurd der Drachentöter“, sagte Silbermann anzüglich - in der Stadt munkelte man, seine Urgroßeltern könnten Juden gewesen sein; was nicht stimmen konnte, denn als Bankdirektor musste sein Vater Arier sein! - und tat, als ob er es zum Guten reden wollte. Mein Mund zuckte und ich hätte beiden am liebsten eine Mauschelle verpasst! Ich nahm mich jedoch zusammen und sagte: „Ja, es sind halt Namen, die in die neue Zeit und zum Führer passen wie meine Mutter mir erklärte; aber glaubt mir, ich möchte, weiß Gott, auch lieber Bernhard oder Erwin heißen, das könnt ihr mir glauben“. Dann schwieg ich und ließ die beiden von Pferden und Sattelzeug sprechen. Eberhard hatte Silbermann untergefasst und redete mit einer belanglosen Teilnahme, die mit »Mein Kampf« niemals in ihm zu erwecken gewesen wäre… Und nach und nach fühlte ich, wie der Drang zu weinen mir prickelnd in die Nase stieg; auch hatte ich Mühe, mein Kinn in der Gewalt zu behalten, das beständig vor innerer Wut ins Zittern geriet…

      Ich konnte meinen Vornamen auch nicht leiden, - was war dagegen zu tun? Nichst! Pommerenke selbst hieß Eberhard, und Silbermann Erwin, gut, das waren allgemein anerkannte Namen, die niemand befremdeten. Aber »Sigurd« der nordische Rächer – hatte für mich etwas Schauerliches; ich wollte nie irgendwen rächen oder etwas Anderes zugleich. Wiederum alles altnordisch Germanische war in der Hitlerjugend besonders willkommen und Sigurd ist ein Held in der nordischen Mythologie. Ja, es war in allen Teilen etwas Besonderes mit mir, ob ich wollte oder nicht. Und trotzdem fühlte ich mich allein und ausgeschlossen von den Ordentlichen, von den herausgehobenen Hitlerjungen. Obgleich ich doch kein Kind im grünen Wagen war sondern ein Arier, ein Sohn des preußischen Gerichtsvollziehers Kröger, aus der Familie der Krögers, von denen schon drei meiner Brüder dem Führer dienten…

      Aber warum nannte Eberhard mich Sigurd, solange wir allein waren, kam ein Dritter hinzu, nannte er mich Kröger, fing er an, sich meiner zu schämen? Zuweilen war ich ihm nahe und zugetan, ja. Auf welche Weise verrät er mich denn, fragte ich mich? Und er hatte meinen linken Arm untergefasst. Aber als dann Silbermann dazu gekommen war, hatte er dennoch erleichtert aufgeatmet, hatte mich, der ich ihn doch so mochte, verlassen und mir ohne Not meine eigenartigen Rufnamen vorgeworfen? Wie weh das tat, dies alles durchschauen zu müssen!

      …Eberhard hatte mich im Grunde schon ein wenig gern, wenn wir unter uns waren, ich wusste es. Aber kam ein dritter dazu, so schämte er sich offensichtlich meiner und opferte mich manchmal auf den Altar des Gespötts. Und dann fühlte ich mich allein gelassen und einsam.

      Ich dachte an den Führer. Der war in seiner Festungshaft auch allein; und die machte ihn für mich heroisch…

      „Oh, je mi ne“, sagte Erwin Silbermann, nun muss ich aber wirklich zur Stadtapotheke. Macht´s gut, ihr beiden und Dank für die Sahnebonbons und hüpfte auf seinen O-Beinen davon.

      „Silbermann kann ich gut leiden“; sagte Eberhard mit Nachdruck. Er hatte eine verdammt verwöhnte und selbstbewusste Art, seine Sympathien und Abneigungen kundzutun, sie gleichsam gnädig zu verteilen… Und dann fuhr er fort von seiner Reitstunde zu erzählen, weil er nunmehr am Zuge war. Es war auch nicht mehr so weit bis zu Pommerenkes Wohnhaus; der Weg über den alten Stadtwall nahm nicht so viel Zeit in Anspruch. Und Eberhard Pommerenke sprach, während ich nur dann und wann ein künstliches ach und ja, ja, einfließen ließ, ohne Freude darüber, dass Eberhard mich im Eifer des Gesprächs wieder untergefasst hatte, denn das war nur eine scheinbare Annäherung ohne Bedeutung.

      Dann verließen wir die alten Wallanlagen nahe dem Bahnhof, sahen den Zug von Massow mit dampfender Eilfertigkeit nach Gollnow vorüberschnaufen, zählten zum Zeitvertreib die Wagons und winkten dem Manne zu, der auf der Plattform des letzten Abteils des Personenzuges stand und seine Pfeife rauchte. Und am Wiesengrund, vor Großhändler Pommerenkes Villa, blieben wir stehen, und Eberhard zeigte ausführlich, wie amüsant es sei, sich auf die große Gartenpforte zu stellen und sich in deren Angeln hin und her zu schlenkern, dass es nur so quietschte. Und hierauf verabschiedete er sich.

      „Ja, nun muss ich“, sagte er. „Tschüss, Sigurd! Das nächste Mal begleite ich dich nach Hause, darauf kannst du wetten“.

      „Auf Wiedersehen, Eberhard, sagte ich, „es war nett mit dir spazieren zu gehen, im übrigen; wir sollten uns mal wieder mit den anderen Kameraden zum Hockeyspielen auf den Kälberwiesen treffen, noch sind die trocken; denn du weißt ja, mit Beginn des Herbstes werden sie wieder überschwemmt! Meinst du nicht auch“? „Mal sehen, antwortete Eberhard Pommerenke“.

      Als Eberhard in meine Augen sah, glaubte ich, so etwas wie ein reumütiges Besinnen in seinem Gesicht zu sehen.

       „Übrigens Sigurd, auch ich werde demnächst des Führers »Mein Kampf« lesen, wetten das? sagte er zum Abschied. Dann nahm er seine Schulmappe unter dem Arm und lief durch den Vorgarten. Bevor er im Hause verschwand nickte er noch einmal lächelnd zurück.

      Eberhard würde »Mein Kampf« lesen und dann würden wir etwas Gemeinsames haben, worüber weder Erwin Silbermann noch irgendeiner der anderen Mitschüler mitreden konnte! Denn in unserer Schule waren immer noch »Die Räuber« der Klassiker. Wie gut wir uns doch miteinander verstanden! Wer weiss, - vielleicht brachte ich ihn doch noch dazu, ebenfalls heroische Verse über den Führer zu schreiben?

      Nein, nein, das wollte ich nicht! Eberhard sollte nicht werden wie ich, sondern bleiben, wie er war, ein schöner Adonis und stark wie alle ihn mochten und ich, »Sigurd Adolf« am meisten! Aber wenn er »Mein Kampf« lesen sollte, würde es ihm trotzdem nicht schaden; im Gegenteil, dann hätten wir etwas Gemeinsames.

      Und ich ging weiter durch das alte gotische Stadttor über den Wall zurück; die Naugarder Straße mit den schönen alten Kastanienbäumen entlang zum Amtsgericht, zum Haus meiner Eltern als ich plötzlich Marschgesang vernahm. Vom Bahnhof kommend marschierte eine Vorhut von Soldaten der Kurland-Division in unsere Stadt. Ich lief freudig nach Hause und noch im Flur rief ich: „Mutti! Mama! Soldaten sind in unserer Stadt“!

      Massow war mit dem Einmarsch der singenden Kurlandtruppe ab sofort Garnisonsstadt und Teile des Divisionsstabes nahmen bei uns im Amtsgericht Quartier. Welch ein Leben, welch ein Treiben war ab diesem Tage in dieser bisher langweiligen pommerschen Kleinstadt. Was ich nicht wusste, Teile des Divisionsstabes der Kurland – Division hatten bereits im Laufe des Vormittags, während ich noch in der Schule war, Quartier bei uns im Amtsgericht bezogen. Welch ein Leben, welch ein Treiben war ab diesem Spätsommertag 1944 in dieser so langweiligen Kleinstadt in Hinterpommern, denn die meisten Soldaten wurden privat einquartiert.

      Unserem Amtsgericht gegenüber lag die Bäckerei und das einzige Café der Stadt, das Café Plathe. An dem Café Plathe grenzte der Frisiersalon Weidemann. Ab sofort waren, so mein Eindruck, erst der Frisörsalon Weidemann und danach das Café von allen allein stehenden Jungfrauen der Stadt zwischen 16 und 60 Jahren und den Soldaten frequentiert. Auch von meiner älteren Schwester Hildegard, Hilde genannt. Sie war vom Ortsgruppenleiter als Hilfspostzustellerin verpflichtet worden und war das von Nachbar zu Nachbar wandelnde tönende Nachrichtenmagazin. Denn die jungen BDM-Mädchen und Lazarettschwestern sahen es unter anderem wohl auch als eine weitere Kriegspflicht an, die für den Fronteinsatz vorgesehenen jungen Soldaten nicht nur beim Tanzkaffee bei guter Laune zu halten, sondern sich selbstverständlich auch in sie zu verlieben. Das soll bei der einen und anderen pommerschen Jungfrau zur ungewollten Schwangerschaft und neun Monate später, 1945 in den entbehrungsreichen Nachkriegstagen, zu schwierigen und notvollen Entbindungen geführt