Sigurd Marx

Der Schrei des Maikäfers


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Naugard halten. Plötzlich wurde die Tür des Fahrzeuges, in dem ich mit weiteren Geschwistern saß, aufgerissen und mein Bruder Gerhard sprang atemlos und keuchend in das Auto. »Mensch Junge, wo kommst du denn her«? fragte ihn einer der Soldaten. Wie bereits vermutet wurde, sollten meine Brüder mit anderen jungen Pimpfen und alten Volkssturmmännern auf Weisung der Feldjäger unsere Stadt mit einem Arm voll Panzerfäusten und eingesammelten Jagdgewehren vor den anstürmenden Russen verteidigen. Ältere Volkssturmmänner hatten den Pimpfen jedoch geraten: »Jungens, nehmt eure Beine in die Hand und haut ab, bevor die Russen euch massakrieren«.

      Bruder Gerhard befolgte diesen Rat und konnte sich im letzten Augenblick zu uns flüchten und so sein Leben retten. Andere sowie mein Bruder Otto leider nicht. Dreizehn Pimpfe aus Massow haben an diesem Tage ihr junges Leben für Führer, Volk und Vaterland gelassen, wie wir Jahre später von unserem Frisör, Kalli Weidemann, erfahren haben. Sie fanden Ihre letzte Ruhe im kühlen Wiesengrunde hinter dem Mühlenrad der Massower Mühle direkt gegenüber dem Massower See; heute polnisch Maszewo.

      Er und seine Familie haben die Flucht aus Massow 1945 vor den anstürmenden russischen Soldaten nicht mehr geschafft. Sie haben bei den Kämpfen um unsere Stadt und nach ihrer Besetzung durch die Russen Grauenhaftes erlebt und gesehen, worüber seine liebe Mutter verrückt geworden ist.

      Kalli Weidemann berichtete meinen Eltern auch, er habe versucht, die jungen Mädchen und Frauen von Massow vor der russischen Soldateska dadurch zu schützen, indem er ihnen einen Herrenhaarschnitt frisierte und sie sich sodann wie Jungen kleideten. Aber einige Tage später wussten die Russen, von wem auch immer, welche »Jungen« sie sich greifen mussten, um ihre sexuellen Gelüste an diesen gewaltsam auszuleben. Und die Gewaltorgien der russischen Soldateska wirken bis heute nach wie man von einem missbrauchten, zwischenzeitlich dreiundsiebzigjährigen »weißhaarigen Mädchen« anlässlich der TV-Diskussion bei Reinhard Beckmann am 18. Mai 2009 erfahren hat; missbrauchte Kriegskinder bleiben traumatisiert.

      Die Familie Weidemann sowie alle restlichen Einwohner von Massow, die im Frühjahr 1945 von der russischen Front überrollt und in Massow das Kriegsende erlebt hatten, wurden 1946 von den neuen Machthabern, den Polen vertrieben.

      Mein Bruder Otto wird seit unserer Flucht und ein weiterer meiner Brüder, Alfred, er meldete sich 1944 freiwillig zur Front, werden bis heute vermisst. Ein Schicksal, das hunderttausende deutscher Männer und Frauen während und nach den Kriegswirren getroffen hat. Tausende Frauen, Mädchen und Jungen wurden von der russischen Siegermacht nach der Kapitulation 1945 nach Sibirien deportiert.

      Die Flucht ging weiter und es klingt verrückt, aber der Militärkonvoi fuhr mit uns auf Schleichwegen direkt durch die Hauptkampflinie in Richtung Naugard, Stettin, Berlin. Ringsherum brennende Dörfer und fliehende Menschen. Das reinste Inferno.

      Abends erreichten wir ein brennendes Dorf, in dem wir in einem der wenigen unbeschädigten Häuser übernachteten. Mit dem ersten Tageslicht setzte sich der Fahrzeugkonvoi wieder in Richtung Stettin/Berlin in Bewegung. Irgendwann erreichte der Militärkonvoi im Laufe des frühen Vormittags die Autobahn auf der sich an diesem Tage noch grausame Dramen abspielen sollten, die bis heute unauslöschlich in meinem Gedächtnis geblieben sind. Auf der rechten Fahrbahnspur, so weit das Auge sehen konnte, ein langer Flüchtlingstreck, der kurz vor Eintreffen unseres Militärkonvois von russischen Tieffliegern mit Bomben beworfen und danach im Tiefflug zusammengeschossen worden war.

      Aus dem Auto heraus sah ich Entsetzliches: Zerstörte, brennende Planwagen, verletzte, vor Schmerzen schreiende Menschen und wimmernde Kinder, die ihre Mütter suchten. Verletzte, wiehernde Pferde mit aufgerissenen Bäuchen, die sich wild windend aus ihrem Geschirr zu befreien versuchten und andere Pferde, die wild und irr über die Autobahn galoppierten, teilweise noch das restliche Pferdegespann hinter sich herziehend und alles niedertretend, was ihnen im Wege war. Ein höllisches, grauenhaftes Inferno.

      Damals waren die Autobahnen noch nicht durch Leitplanken geteilt und von Autos kaum frequentiert. Der Militärkonvoi wich auf die verkehrsfreie Gegenfahrbahn aus und fuhr dort in Richtung Berlin weiter. Beim nächsten Halt des Konvois ereilte uns alle ein fürchterlicher Schock. Der PKW des Kommandeurs, in dem auch Mutter saß, war bei dem Ausweichmanöver im Autobahninferno irgendwo auf der Autobahn liegen geblieben, ohne das jemand der anderen Fahrzeugführer das Zurückbleiben bemerkt hatte. Hinter uns und links von der Autobahn auf den freien Feldern sah man bereits die aufmarschierenden russischen Soldaten. Was konnte man tun? Eine dramatische Situation. Es war Stabsoffizier Hans Rabauer, der die Übersicht behielt und sich anbot, mit einem anderen Fahrzeug und zusätzlich mit einem bewaffneten MG-Schützen auf der Autobahn zurückzufahren, um nach den Vermissten zu suchen.

      Sollten sie wider Erwarten nicht innerhalb einer Stunde zurück sein, möge der ganze Tross ohne sie und den vermissten Kommandeur weiter fahren. Der wartende Konvoi fuhr von der Autobahn seitwärts in die Deckung eines Kiefernwaldes. Höchste militärische Sicherung nach allen Seiten der Deckung sowie banges ängstliches Warten. Würden wir Mutter und die vermissten Soldaten jemals wiedersehen?

      Nach einer von allen empfundenen Zeit der Ewigkeit kam Stabssoldat Rabauer mit meiner lieben Mutter, dem vermissten Kommandeur und seinem defekten PKW im Schlepptau zurück. Der Fahrzeugkonvoi fuhr aus der Deckung des Waldes heraus, weiter auf der Autobahn mit neuem Aufmarschziel: Oderbruch, Seelower Berge.

      Irgendwann im Laufe des Tages war für uns der Schutz und die Fürsorge durch die Kurlandsoldaten für immer zu Ende. Die Soldaten verfrachteten uns in Eberswalde auf einen dort abfahrbereiten offenen Güterzug, der von dort nach Stralsund fahren sollte. Es folgte ein tränenreicher Dank und Abschied von den uns so lieb gewonnenen Kurland-Soldaten, die sich in dieser Gegend den russischen Soldaten zum letzten Kampf stellen mussten.

      Den ganzen Tag und die folgende Nacht fuhren wir in einem offenen Waggon eines Güterzugs kreuz und quer durch das zerbombte Schienennetz über viele Umwege durch die vorpommersche Landschaft in Richtung Stralsund. Es war Anfang März und noch empfindlich kalt, besonders in der Nacht. Toiletten hatte ein offener Güterwaggon der Deutschen Reichsbahn natürlich nicht. Ob sie wollten oder nicht; Frauen, Kinder und alte Männer waren gezwungen, menschenunwürdig, ihre Notdurft in einer Ecke des Waggons zu verrichten, denn einen Aborteimer gab es nicht.

      Irgendwann am frühen Morgen, es war noch dunkel, fuhr der Güterzug in den Bahnhof der nach einem Bombenangriff noch brennenden Stadt Stralsund ein. Hier kamen wir nach allen überstandenen Strapazen für ein paar Wochen zu einer wohlverdienten Ruhe. Vielleicht kam hier erstmals unser allgemein gepflegtes Erscheinungsbild zur Geltung, vielleicht auch Mutters Silbernes und Goldenes Mutterkreuz, die sie sichtbar trug, denn ohne andere Flüchtlinge wurden nur wir Krögers in einer wunderschönen Villa in der Nähe des Stralsunder Hafens einquartiert.

      Die Hausherrin, eine Frau von Hela, lebte mit einem deportierten, zwangsverpflichteten polnischen Dienstmädchen ganz alleine in dieser großen Villa. Sie war Offizierswitwe und eine attraktive, feine, vornehme Dame, die sich rührend um uns Krögers kümmerte. Es gab Kakao mit feinstem Gebäck und für meine Mutter servierte sie echten Bohnenkaffee aus Bremen. Meine Mutter als »alte Kaffeetante« war hin und weg vor Freude und rief euphorisch: »Mein Gott, echter Bohnenkaffee aus Bremen, wo es doch in dieser Zeit an allem mangelt«. Und dann fragte sie sich, ob sie wohl jemals in ihrem Leben wohl noch einmal nach Bremen kommen würde?

      Allerdings glaubte Mutter vorerst fest daran, die in Hinterpommern eingedrungene russische Armee würde schnellstmöglich wieder nach Russland zurückgedrängt und wir könnten danach baldmöglichst wieder nach Massow zurückkehren.

      Aber ein altes Sprichwort traf seinerzeit auf alle Deutschen zu: »Hoffen und Harren, hält manchen zum Narren«. Denn die einen hofften auf die »Wunderwaffe« und die anderen hofften auf die Wendung des Krieges zum Guten.

      Beides traf nicht ein. Frau von Hela war über die damalige allgemeine Kriegslage sehr gut informiert. Sie bezog ihre Informationen aus ihren offensichtlich sehr guten Verbindungen nach Schweden und versuchte unsere Mutter bei Kaffee und Konfekt schonend auf das nahe Ende des (Tausendjährigen) Deutschen Reiches, die bedingungslose Kapitulation, und die folgende Not und das Elend, das über die überlebende Zivilbevölkerung hereinbrechen würde, den Verlust der Heimat und der deutschen Ostgebiete, vorzubereiten.

      Zwischen